Halbes Gehirn

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Hemisphärektomie ist die neurochirurgische Entfernung einer Gehirnhälfte. Diese wird in der Regel im Kindesalter durchgeführt, also zu einer Zeit, zu der die volle Plastizität des menschlichen Gehirns noch gegeben ist. Siehe: Neuroplastizität

In den 1940-er und 1950-er Jahren wurde Hemisphärektomie zur Behandlung von Epilepsie durchgeführt, verschwand jedoch in den 1960-er Jahren, weil man erkannte, dass der Schaden größer war als der Nutzen. Heute wird Hemisphärektomie in einzelnen Fällen durchgeführt bei:

Es gibt Berichte über Menschen, denen eine Gehirnhälfte entfernt wurde. Ihnen ist diese Seite gewidmet.

Beispiele

Die Jahreszahl gibt das Jahr der Gehirn-OP bzw. deren Publikation an:

1996 Alex

Alex konnte während seiner ersten 9 Lebensjahren nur stammelnde Laute von sich geben. Nach der Entfernung des halben Kortex konnte er plötzlich reden. Alex litt an einer seltenen angeborene Missbildung der Blutgefäße, dem Sturge-Weber-Syndrom. Es hatte Alex linke Hirnhälfte zerstört. Zwar hatte die rechte Hälfte die Steuerung wichtiger Funktionen übernommen und damit eine halbseitige Lähmung verhindert. Doch sprechen konnte Alex nicht lernen. "Mama" war das einzige Wort, das Alex zwischen ständig wiederkehrenden epileptischen Anfällen hervorbrachte.[1]

Dann entfernte ein Ärzteteam um den Neurochirurgen Christopher Adams am Radcliffe-Krankenhaus im englischen Oxford die linke Hirnhälfte. Wie im Zeitraffer begann Alex, das Versäumte aufzuholen. Die epileptischen Anfälle verschwanden. Schon nach vier Monaten formte er die ersten Worte, bald darauf ganze Sätze. Innerhalb von nur zwei Jahren lernte Alex zu sprechen wie ein Achtjähriger.[1]

"Was den Fall Alex so bemerkenswert macht, ist, daß die Sprache so schnell und zu solch einem späten Zeitpunkt erlernt wurde", erläuterte der Neuropsychologe Mortimer Mishkin vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health. Er hat die Fortschritte des Jungen über Jahre hinweg beobachtet. Auch wenn der damals (1996) 15-Jährige noch nicht die Wortgewandtheit eines Erwachsenen erreicht, sei er doch für einen Jungen seiner Intelligenz (IQ 70) überdurchschnittlich leistungsfähig, so Mishkin.[1]

Alex ist ein deutliches Beispiel für die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Während bei Erwachsenen ein großer, linksseitiger Schlaganfall die meisten Sprachfunktionen auf Dauer auslöschen kann, übernimmt bei Patienten mit Sturge-Weber-Syndrom die rechte Hirnhälfte diese Aufgaben – wenn sie in den ersten Lebensjahren behandelt werden. Dass dies auch noch mit 9 Jahren funktioniert, zeigt sich am Beispiel von Alex.[1]

2002

Johannes Borgstein und Caroline Grootendorst berichteten 2002 in "The Lancet" von einem Mädchen, dem aufgrund einer chronischen Gehirnentzündung mit schweren epileptischen Anfällen die linke Hirnhälfte entfernt wurde. 4 Jahre nach der Hirnoperation sprach das Mädchen fließend zwei Sprachen, entwickelte sich bestens und lebt ein normales Leben. Nur eine leichte Verkrampfung in einem Arm und einem Bein blieben von dieser Operation zurück. [2]


bleibende Sprachstörungen

Genies wurde von ihrem geistig behinderten Vater 13 Jahre in ihrem Zimmer eingeschlossen. Trotz normaler Intelligenz und intensiver Schulungen hat Genie niemals normal sprechen gelernt und bringt lediglich Sätze hervor wie: "Apfelbrei kaufen Laden". Eine Analyse von 8 Leidensgenossen Genies, allesamt "linguistisch deprivierte" Kinder, die im Alter zwischen 2,5 und 13 Jahren entdeckt wurden, ergab, dass immerhin 6 von ihnen das Trauma überwanden und später sprechen lernten. Diese 6 waren vor dem 9. Lebensjahr befreit worden.[1]

Lernen diese Menschen nämlich die Zeichensprache erst nach dem 13. Lebensjahr, so erreichen sie niemals mehr die Fähigkeiten taubstummer Jugendlicher, die von frühester Kindheit an mit der Zeichensprache konfrontiert wurden.[1]

ohne Kleinhirn

Im Jahr 2015 stellte die Neurologiezeitschrift "Brain" eine Fall mit "zerebellärer Agenesie" vor, d.h. ihr fehlt das Kleinhirn. Weltweit sind 9 solche Fälle beschrieben. Die 24-Jährige lebt ohne nennenswerte Einschränkungen. Die Frau, eine Chinesin, war wegen Schwindel und Übelkeit zum Arzt gegangen. Dabei zeigte sich, dass ihr das Kleinhirn fehlt, offensichtlich seit ihrer Geburt, denn sie hatte schon immer Probleme mit Gehen und lernte schwer sprechen. Inzwischen ist sie verheiratet, hat eine Tochter und führt ein unauffälliges Leben. Ihr Beispiel zeigt, dass willkürliches Bewegungssteuerung und Feinmotorik, die Kernkompetenzen des Kleinhirns, auch von anderen Hirnarealen übernommen werden können. Zwar nicht perfekt, aber funktionell befriedigend.[2]

Bei angeborenen neurologischen Schädigungen dieser Art wird gerne angeführt, dass viele Funktionen im Gehirn doppelt und dreifach angelegt ist.


Fazit

"Bis zum Alter von sieben Jahren ist alles offen", so Angela Friederici, 1996 die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Neuropsychologie in Leipzig. Das Gehirn ist so anpassungsfähig, dass auch die rechte Hälfte Sprache neu erlernen kann. "Erst nach dem siebten Lebensjahr wird es zunehmend schwieriger, und nach der Pubertät scheint es unmöglich zu sein."[1]

Sonstiges

Extrem kleines Gehirn

Felix Hasler veröffentlichte am 09.06.2016 den Artikel "Es geht auch (fast) ohne Hirn".[2] Darin heißt es:

"Ein Mädchen führ ein normales Leben mit einem halben Gehirn." - Siehe oben.

"Ein Student erreicht mit fünf Prozent Hirnmasse einen IQ von 126: Liegt die heutige Neurowissenschaft komplett daneben?"
Der britische Neurologe John Lorber spezialisierte sich auf Patienten mit angeborenen Hirnveränderungen. So hat er einen Jungen mit einer aus einer knapp 1 mm dicken Hirnrinde. 95% des Schädelräums seien mit Hirnflüssigkeit gefüllt. Das Gewicht des Gehirns wird auf etwa 100 Gramm geschätzt, weit neben der üblichen rund 1.300 g. Dabei studiert der Patient Matemathik und habe einen IQ von 126. Auch sei er sozial völlig normal. Als Quelle sei "Science" (1980) angegeben.

John Lorber habe über 600 Patienten mit Hydrozephalus untersucht und kam dabei zu dem Ergebnis, dass "einige Patienten viel normaler sind, als sich aus ihren Hirnscans ableiten liesse".

Auch Arno Villringer, Neurologe in Leizig beschäftigt sich mit Patienten mit Hydrozephalus. Auch er kennt solche Aufnahmen: "Als ich sein Computertomografiebild sah, war gleich klar, dass er fast kein Gehirn hatte. Ein unglaublich grosser Hydrozephalus und nur ganz schmale Streifen Hirnrinde. Der Mann lebte ein unauffälliges Leben, das war eine Zufallsentdeckung." Villringer folgert daraus: "Offensichtlich kann man mit vergleichsweise wenig Gehirn schon sehr viel leisten."

Trotz aller Bemühungen fehlen die elementaren pathophysiologischen Konzepte. Man hat keine Ahnung, was genau im Gehirn schief läuft, wenn ein Mensch deprssiv, manisch oder psychotisch wird. Felix Hasler legt daher den Gedanken nahe, dass man hierbei möglicher Weise am falschen Ort sucht. "Nervenzellen allein werden weder depressiv noch panisch. Solche leidvollen Bewusstseinserfahrungen kann nur der Mensch als Ganzes machen."




Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Alison Motluk, Michael Simm: Leben nach der Hirnamputation. In: Focus Magazin Nr. 18 (1996). (29.04.1996) Nach: https://www.focus.de/gesundheit/news/medizin-leben-nach-der-hirnamputation_aid_157107.html Zugriff am 11.11.2019.
  2. a b c Felix Hasler: Es geht auch (fast ohne Hirn. (09.06.2016) Nach: https://www.beobachter.ch/gesellschaft/forschung-es-geht-auch-fast-ohne-hirn Zugriff am 22.02.2020.