Supravitale Reaktionen

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Die supravitalen Reaktionen (lat. supra = "über", vitalis = "lebendig", => überlebend) sind die Reaktionen eines Körpers, die nach dem Tod eines Menschen (Individualtod} festgestellt werden können. Die in der Auflistung angegebenen Zeiten beziehen sich auf Eintritt des Blutkreislaufes.

"Supravitale Reaktionen: Der Individualtod tritt ein bei irreversiblem Stillstand von Kreislauf und Atmung oder bei irreversiblem Aussetzen aller Hirnfunktionen. Reaktionen, die sich nach Eintritt des Kreislaufstillstandes bis zum Absterben der letzten Zelle an den noch nicht abgestorbenen Zellen auslösen lassen, heißen supravitale Reaktionen. Grundlagen dieser Reaktionen sind postportal ablaufende Stoffwechselprozesse.
Supravitale Reaktionen sind bei kurzer Leichenliegezeit (bis ca. 48 h) geeignet, den Todeszeitpunkt einzugrenzen."[1]

Supravitale Erscheinungen sind:[2]
- mechanische Erregbarkeit des Leichenmuskels (idiomuskulärer Muskulwulst)
- elektrische Erregbarkeit des Leichenmuskels
- postmortale Pupillenreaktionen bei Verabreichen von Arzneistoffen
- "Gänsehaut" bei Hautreizung mit Histaminchlorid

h Aktivitäten nach ... h Herzstillstand
1,5 elektrische Erregbarkeit des Herzens[3]
2 Erzeugung einer Gänsehaut mittels Histaminchlorid[2]}}
2,5 Durch Anschlagen des Oberschenkelmuskels im unteren Drittel mit einem Reflexhammer eine Aufwärtsbewegung der Kniescheibe ausgelöst werden entsprechend einer über den ganzen Muskel 'fortgeleiteten' Erregung (Zsakó’s Phänomen)[4]
8 Die Zellen der Muskeln bleiben über 8 Stunden am Leben, weil sie ihre Energieversorgung für Stunden auch ohne Sauerstoff aufrecht erhalten können.[5][6][4][7][8][9]
10 Pupillen reagieren auf Zugabe von Atropin.[9][10]
13 Auf den kräftiger Schlag auf einen großen Muskel bildet sich ein reversibler Wulst.[2][11][12][9]
17 Durch die Gabe von Mydriatika/Kiotika führt zu einer Pupillenreaktion (Mydriasis/Miosis).[4]
22 Gesichtsmuskeln können durch gezielte elektrische Schläge zum Zucken angeregt werden.[13][14][9]
24 Magen und Darm arbeiten bis zu 24 Stunden weiter.[5][15][6][7][8]
27 Augenringmuskulatur kann elektrisch gereizt werden.[16]
30 In die Haut wird Adrenalin injiziert, worauf die Haut an der Stelle Schweiß absondert.[17][12]
30 Pupillen reagieren auf Zugabe von Acetylcholin.[9][10]
46 Pupillen können durch entsprechende Medikamente (z.B. Adrenalin) zu Reaktionen angeregt werden.[18][2][14][9]
64 Spermien sind noch 10 bis 64 Stunden funktionsfähig.[19][4]
72 Hornhaut des Auges hat nach 72 Stunden noch so guten Stoffwechsel, dass diese noch transplantiert werden kann.[Anm. 1]

Eigenschaften der supravitalen Reaktionen:[1]

Supravitale Reaktion Prüfung Intervall
Zsakó-Muskelphänomen Beklopfen von Muskelgruppen >> Eigenzuckungen des gesamten Muskels 1-2 h
Idiomuskulärer Wulst kräftiger Schlag auf einen großen Muskel, wie M. biceps brachii oder M. quadriceps femoris >> Bildung eines reversiblen Wulstes bis zu 13 h
Schweißdrüsenreaktion Adrenalininjektion >> Schweißsekretion ca. 30 h
Pupillenreaktion Injektion von Adrenalin (>> Mydriasis) oder Azetylocholin (>> Miosis) in die vordere Augenkammer Mydriasis bis 30 h
Miosis bis zu 48 h
Spermienanfärbbarkeit histologischer Nachweis der Vitalität 10-64 h (je nach Umgebung)

Claus Henßge: Überleben von Geweben nach dem Tode.

Zsako veröffentlichte bereits im Jahr 1916 das Phänomen, dass man bis über 2 Stunden nach dem Todeseintritt nach adäquater mechanischer Reizung Muskeln erregen kann.[12]

Bei einem Herzstillstand bleibt das Herz noch bis zu 30 Minuten funktionsfähig, die Leber bis zu 30 Minuten, die Lunge bis zu 60 Minuten, die Nieren bis zu 120 Minuten.[20]

Der Mensch ist zwar tot, "aber seine Zellen leben weiter, Minuten und Stunden, je nachdem, wie lange sie ohne den lebenswichtigen Sauerstoff auskommen können. Am empfindlichsten sind die Zellen des Gehirns. Sie sterben zuerst (8-10 min), dann das Herz (15-30 min), die Leber (30-35 min), die Lunge lebt noch knapp eine Stunde und die Niere bis zu zwei. Über 8 Stunden bleiben die Muskeln am Leben, weil sie ihre Energieversorgung auch ohne Sauerstoff aufrecht erhalten können."[5][6][7][8]

"Es kann von folgenden Überlebenszeiten einzelner Organe ausgegangen werden: Gehirn 8-10 Minuten, Herz ca. 15-30 Minuten, Leber ~30-35 Minuten, Muskulatur ~2-8 Stunden, Spermien bis ~10-83 Stunden. Diese überlebenden Zellen und Organe sind in der Lage, 'Lebensäußerungen' zu erzeugen. So lässt sich durch einen Schlag auf die Streckermuskulatur des Oberschenkels eine Muskelkontraktion – der idiomuskuläre Wulst – hervorrufen. Eine Einspritzung von Atropin in die vordere Augenkammer führt zur Weitstellung der Pupille, die durch Eserin wieder rückgängig gemacht werden kann. Subkutane Injektion von Histaminchlorid erzeugt eine Kontraktion der kleinen glatten Mm. arrectores pilorum der Haut, was sich als 'Gänsehautbildung' beobachten lässt."[21]

Um den zellulären Zerfall zu verhindern, werden in der Pathologie die Organe und Zellen fixiert. "Den ersten Schritt der Knochenaufbereitung stellte die Fixierung dar, um die intra- und supravitalen Stoffwechselprozesse zu unterbrechen und die postmortalen Zerfallserscheinungen zu verhindern."[22]

Im "Kurzlehrbuch Rechtsmedizin" heißt es: "Supravitale Reaktionen sind über den Individualtod hinaus auslösbare 'Lebensäußerungen' von Gewebe auf Reize."[23] Weiter heißt es dort: "Die Prüfung der supravitalen elektrischen Erregbarkeit der Skelettmuskulatur ist eine in der rechtsmedizinischen Praxis unverzichtbare Methode zur Schätzung der Liegezeit eines Leichnams. Die elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur kann in Einzelfällen bis 20 Stunden post mortem erhalten bleiben. ... Auch die glatte Irismuskulatur ist portmortal reagibel, wobei die Reaktionsdauer der quergestreiften Skelettmuskulatur von der der glatten Irismuskulatur auf pharmakologische Reizung deutlich übertroffen wird: Reagibilität in Einzelfällen bis 50 Stunden port mortem."[24]

In "Rechtsmedizin systematisch" heißt es: "Als intermediäres Leben wird dann der Zeitraum zwischen Sistieren des Kreislaufs und Eintritt des biologischen Todes bezeichnet. Die Zellen der einzelnen Körperorgane sterben infolge O2-Mangels allmählich je nach ihrer entsprechenden Vulnerabilität ab. Am empfindlichsten sind Nervensystem, Herz sowie Lunge, Leber und Nieren."[25] "Als durchschnittliche sog. Wiederbelebungszeit der einzelnen Organe nach Anoxie (danach Erlöschen der Gesamtfunktion,, nicht unbedingt Absterben der letzten Zelllen) wurden festgestellt:

  • Gehirn: ca. 5-8 Minuten (danach irreversible Schädigung dieses die Überlebensfähigkeit des gesamten Organismus limitierenden Organs!)
  • Herz: ca. 15-30 Minuten
  • Leber: ca. 30 Minuten
  • Lunge: ca. 60 Minuten
  • Niere: ca. 90-120 Minuten
  • Muskeln: ca. 2-8 Stunden
  • Spermien: bis zu 3 Tage

Bei hohen Temperaturen liegen die Zeiten kürzer, bei sehr niedrigen Temperaturen verlängern sie sich eventuell deutlich."[26]


Kuriositäten

Bei einer 78 Jahre alt gewordenen Frau, Todesursache: spontane Hirnmassenblutung, sollen bis zwei Stunden nach der Todesfeststellung spontane koordinierte Bewegungen der rechten unteren Extremität einschließlich des Fußes aufgetreten sein. Die Autoren interpretieren diese Bewegungen als über das Rückenmark koordiniert. Als kurioser Beweis wird auf das dekapitierte Huhn verwiesen. Nach unserer Vermutung handelte es sich um vitale Spontanbewegungen einer fälschlicherweise für tot gehaltenen Frau.
Aus dem Fallbericht ergibt sich kein sicheres Todeszeichen.[27]

Aus Zeiten der Todesstrafe ist dokumentiert, dass schwangere Hingerichtete ein totes Kind geboren haben. Im Körper bilden sich nach dem Tod Gase, die letztlich das Kind aus dem Körper treiben. - Diese Gase können auch dazu führen, dass Luft durch die Luftröhre gepresst wird. Die dabei entstehenden Laute können wie Gestöhne, Ausrufe und Schrei missverstanden werden. - Bei manchen Verstorbenen sind noch reflektorische Muskelkontraktionen zu beobachten. Nerven im Rückenmark leben noch und führen zu diesen Spasmen oder Krämpfen. - Äußerst selten kommt es zu einer postmortalen Erektion und Ejakulation. Wenn der Tote zu lange liegt und sein Genitalbereich der tiefste Punkt des Körpers ist, sammelt sich durch die Schwerkraft das Blut im Glied, was einer Erektion ähnlich ist. Nach Umlagerung des Toten geht diese "Erektion" zurück. Erektion und Samenerguss sind sehr selten und treten nach der Leichenstarre nicht auf. - Einzig das häufig genannte Wachsen der Nägel ist eine Illusion. Mit dem Tod des Körpers trocknet dieser aus. Damit zieht sich die Haut zurück, was den Eindruck erweckt, dass Haare und Nägel gewachsen seien.[28]

Die Haut trocknet nach dem Tode aus und zieht sich zurück. Das erweckt den Anschein, dass Haare und Nägel gewachsen seien.[7]

Die wohl bis zum Jahr 2017 längste festgestellte biologische Aktivität in einem Leichnam erfolgte in einem Rippenknochen einer 2.300 Jahre alten ptolemäischen Mumie: "Im Vergleich zu frischer alkalischer Phosphatase wies das mumifizierte Enzym aus Rippen- oder Beckenknochen 65% der biologischen Aktivität auf. ... Während das Enzym in wässriger Lösung seine funktionelle Aktivität bie 25°C nach zwei Stunden verliert, bleibt das Enzym durch die Anlagerung auf der anorganischen Matrix im Knochen noch nach 2300 Jahren strukturell und funktionell voll intakt."[29] U. Weser schreibt hierzu: "Hirntod-Kritiker müssten demnach von einer lebendigen Mumie ausgehen, wollten sie in ihrer Argumentation konsequent bleiben."[29]


Anhang

Anmerkungen

  1. Diesen langsamen Stoffwechsel nennt man bradytroph.

Einzelnachweise

  1. a b Gisela Zimmer: Rechtsmedizin. In: AllEx. Alles fürs Examen. 2. Auflage. Stuttgart 2014, 256.
  2. a b c d Günther Reinhardt, Hans-Joachim Seidel, Hans-Günther Sonntag, Wilhem Gaus, Volker Hingst, Rainer Mattern: Ökolgisches Stoffgebiet. Stuttgart 1991, 203.
  3. Wolfgang Baumgärtner: Allgemeine Pathologie für die Tiermedizin. Stuttgart 2015, 270. In: https://www.thieme-connect.de/media/10.1055-b-003-125792/lookinside/10-1055-b-003-125792_chapter013-2.jpg Zugriff am 18.10.2016.
  4. a b c d https://amboss.miamed.de/wissen/Thanatologie Zugriff am 4.4.2017.
  5. a b c http://www.bestattungshaus-uwe-schmidt.de/info.html Zugriff am 4.4.2017.
  6. a b c http://prisonofterror.tumblr.com/post/45125246211/was-passiert-mit-dem-koerper-nach-dem-tod Zugriff am 4.4.2017.
  7. a b c d http://www.3sat.de/page/?source=/wissenschaftsdoku/sendungen/173982/index.html Zugriff am 4.4.2017.
  8. a b c http://www.med1.de/Forum/Trauer/412379/?p=8 Zugriff am 4.4.2017.
  9. a b c d e f Randolph Penning: Rechtsmedizin systematisch. 2. Auflage. Bremen 2006, 23.
  10. a b Burkard Madea: Praxis Rechtsmedizin. Befunderhebung, Rekonstruktion, Begutachtung. 2. Auflage. Heidelberg 2007, 42.
  11. http://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/33906143-9783132402683-endspurt-klinik-skript-19-rechtsmedizin-arbeitsmedizin-umweltmedizin-toxikol Zugriff am 19.1.2016.
  12. a b c Ingeborg Britta Claßen: Eingrenzung der Leichenliegezeit mittels immunhistochemischem Nachweis von Cystatin C in der Nebenniere. Tübingen 2006, 3. (med. Diss.) In: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/44835/pdf/Dissertation_IClassen.pdf?sequence=1 Zugriff am 4.4.2017.
  13. http://bazonline.ch/basel/stadt/story/14242401 Zugriff am 19.1.2016.
  14. a b Tony Manfred Schmidt: Diffusionsgewichtete Bildgebung und Spektroskopie mittels ex vivo Magnetresonanztomographie. Hamburg 2014, 5. (med. Diss.) Nach: http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2015/7177/pdf/Dissertation.pdf Zugriff am 4.4.2017.
  15. http://www.bravo.de/ziemlich-spannend-das-passiert-mit-unserem-koerper-wenn-wir-sterben-374333.html Zugriff am 4.4.2017.
  16. Claus Henßge: Überleben von Geweben nach dem Tode, 25.
  17. http://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/33906143-9783132402683-endspurt-klinik-skript-19-rechtsmedizin-arbeitsmedizin-umweltmedizin-toxikol Zugriff am 19.1.2016.
  18. http://bazonline.ch/basel/stadt/story/14242401 Zugriff am 19.1.2016.
  19. http://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/33906143-9783132402683-endspurt-klinik-skript-19-rechtsmedizin-arbeitsmedizin-umweltmedizin-toxikol Zugriff am 19.1.2016.
  20. Johannes Bonelli: Leben und Hirntod aus der Perspektive des Arztes. In: Imago Hominis, Band I/Nr. 1, 55-66. Nach: http://www.imabe.org/fileadmin/imago_hominis/pdf/IH001_055-066.pdf Zugriff am 1.4.2017.
  21. Andreas Prescher: Naturwissenschaftliche Bemerkungen zum Sterbeprozess und zur Thanatologie. In: Michael Rosentreter, Dominik Groß, Stephanie Kaiser (Hg.): Sterbeprozesse – Annäherungen an den Tod. In: Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte. Band 9, Seite 37. Nach: http://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-89958-960-3.volltext.frei.pdf Zugriff am 4.4.2017.
  22. Moritz Morawski: Untersuchung der Frakturheilung unter dem Einfluss von Simvastatin am Rattenmodell. Berlin 2009, 39. (med. Diss.) Nach: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000005505/Dissertation_-_Moritz_Morawski.pdf Zugriff am 4.4.2017.
  23. Burkhard Madea, Frank Mußhoff, Brigitte Tag: Kurzlehrbuch Rechtsmedizin. Bern 2012, 128.
  24. Burkhard Madea, Frank Mußhoff, Brigitte Tag: Kurzlehrbuch Rechtsmedizin. Bern 2012, 129.
  25. Randolph Penning: Rechtsmedizin systematisch. 2. Auflage. Bremen 2006, 22.
  26. Randolph Penning: Rechtsmedizin systematisch. 2. Auflage. Bremen 2006, 23.
  27. Claus Henßge: Überleben von Geweben nach dem Tode, 25.
  28. https://www.europe-pharm.com/de/koerper-nach-dem-tod Zugriff am 4.4.2017.
  29. a b U. Weser: Konserviertes Leben. Aktive Enzyme in Mumien. Molekulare Archäologie und die Frage nach dem Tod. In: Forschung. Das Magazin der DFG 4 (1994), 12f. Zitiert nach: Fuat Oduncu: Hirntod. In: Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hg.): Sterben und Tod. Stuttgart 2010, 98-103, Seite 101.