Beispiel Hören

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Ablauf beim Hören

Um die Tragweite des Hirntodes besser zu verstehen, wird hier anhand des Hörens aufgezeigt, was für ein Zustand Hirntod ist. Dabei wird vor allem funktionell auf das Gehirn eingegangen, weniger auf die konkreten anatomischen Regionen im Gehirn, die diese einzelnen Aufgaben durchführen. Dies kann beim Zustand Gesamthirntod (Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm sind irreversibel ausgefallen) vernachlässigt werden, da alle diese nachfolgend einzeln beschriebenen Funktionen ausschließlich in den Regionen von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm ablaufen. Für diese Hirnregionen gibt es funktionell keinen Ersatz.

  1. Signal der Ohren
    Alle Geräusche im Frequenzbereich von 20-20.000 Hz[Anm. 1] nimmt unser Ohr wahr und wandelt sie in elektrische Impulse um. Über den Hörnerv werden diese Informationen an unser Gehirn geleitet.
  2. Akustisches Gedächtnis
    Mit diesen vom Hörnerv kommenden Informationen allein kann unser Gehirn nichts anfangen, weil es die Interpretation dieser Information fehlt. Der Schlüssel zu dieser Information liegt im akustischen Gedächtnis, in dem wir das Klangmuster verschiedener Laute unserer Sprache gespeichert haben. Für die vom Hörnerv kommende Information wird nun im akustischen Gedächtnis nach einer ähnlichen Information gesucht, die dem gehörten Klangmuster in etwa entspricht.
    Dies soll visuell damit verdeutlicht werden: Sie können mit dieser Information 68 97 115 32 76 101 98 101 110 32 105 115 116 32 98 117 110 116 46 oder -.. .- ... / .-.. . -... . -. / .. ... - / -... ..- -. - .-.-.- oder 44 61 73 20 4c 65 62 65 6e 20 69 73 74 20 62 75 6e 74 2e oder gar 01001 00011 00101 00100 10010 00001 11001 00001 01100 00100 00110 00101 10000 00100 11001 00111 01100 10000 11011 11100 kaum etwas anfangen. So ergeht es dem Gehirn mit dem aus dem Gehörten produzierten Signal.
    Unser Gehirn sucht somit im akustischen Gedächtnis, wofür steht dieses vom Ohr stehende Muster. Im oben genannten Beispiel handelt es sich immer um die gleiche Information, zunächst ist der Text als ASCII-Code, als Morsezeichen,

hexadezimal und schließlich binär dargestellt. Der Text dazu lautet jeweils: Das Leben ist bunt.

  1. Interpretation der Signale
    Anhand des akustischen Gedächtnisses kann unser Gehirn die am Hörnerv anstehende Information als "Das Leben ist bunt" interpretieren.
  2. Datenbank des Wissens
    Sollte dieser Satz eine für uns wichtige Information sein, wird dieses als neues Wissen in unserer neuronalen Datenbank abgelegt. Damit können wir immer wieder darauf zugreifen, solange wir uns daran erinnern.

Hören von Hirntoten
Wenngleich es unsinnig ist, von einem "Hören der Hirntoten" zu schreiben, so soll dieser Absatz den Zustand Hirntod verdeutlichen: Die Informationen unserer Hörnerven kommen am Gehirn als elektrische Signale an. Da bei Hirntoten das Gehirn funktionsunfähig ist, kann es noch nicht einmal erkennen, dass Informationen anstehen. Das akustische Gedächtnis ist durch den Hirntod zerstört. Selbst wenn das Gehirn noch die Fähigkeit der Signalerkennung hätte, es kann mit den Signalen nichts anfangen, weil die akustische Datenbank fehlt.

Der Zustand Hirntod ist damit ein doppelter Tod:

Hirntod ist der Tod der neuronalen Datenverarbeitung.
Hirntod ist die Zerstörung aller neuronalen Datenbanken.

Was hier beispielhaft am Hören aufgezeigt wurde, gilt für alle akustischen Tätigkeiten. Wir hören eine Katze schnurren und wissen aufgrund unserer neuronalen Datenbank, dass dieses Geräusch von einer Katze stammt. Wir einen Specht klopfen und wissen, dass er es ein Specht ist. Wir hören einen Automotor und können grob die Richtung und die Entfernung zu diesem Auto einschätzen. Wenn das Auto fährt, können wir erkennen, ob das Auto auf uns zu fährt, sich von uns entfernt oder an uns vorbei fährt. Wir wissen es aufgrund gemachter Lebenserfahrungen, wie sich dies anhört. - Selbst wenn der Hirntote je wieder in der Lage sein könnte, die Geräusche wahrzunehmen, so fehlt ihm noch immer die neuronale Datenbank, um diese Objekte entsprechend einzuordnen (z.B. schnurrende Katze, klopfender Specht, fahrendes Auto oder die Information "Das Leben ist bunt.").

Was hier zur akustischen Wahrnehmung beschrieben wurde, gilt beim Hirntod in gleicher Weise auch für alle anderen Sinneswahrnehmungen. Selbst wenn Hirntote in der Lage wären, die Worte "Danke für alles" oder "Ich liebe dich" zu hören, sie würden es nur als Geräusch wie jedes andere Geräusch wahrnehmen, da ihre neuronale Datenbank für die Interpretation dieser Geräusche fehlt. Für alle Sinneswahrnehmungen fehlt die neuronale Datenbank, um diese Wahrnehmungen verstehen zu können.

Hörtest

Klartext Hirntote
Diese ist ein Hörtest ganz besonderer Art: Er versucht visuell aufzuzeigen, in welchem Zustand sich Hirntote für die akustische Wahrnehmung befinden. Stellen Sie sich vor, es gibt keine Wörter. Es gibt nur das, was rechts in dieser Tabelle zu sehen gibt: Nichts.

In solch einem "Nichts" wuchs Helen Keller (1880-1968) auf, denn im Alter von 2 Jahren erkrankte sie an Hirnhautentzündung und verlor in Folge dessen Seh- und Hörvermögen, in Folge dessen auch das Sprechen. Wie will man mit jemanden kommunizieren, der blind, taub und stumm ist?
Mit 8 Jahren erhielt sie die damals 21-jährige Privatlehrerin Anne Sullivan Macy, die ihr mit viel Liebe und Geduld ein Fingeralphabet lehrte, das in die Handfläche gedrückt wird. Hierbei gab ihr Macy immer einen Gegenstand in die Hand und buchstabierte es anschließend in ihre Hand. Lange verstand Helen Keller den Zusammenhang nicht. An einem Brunnen jedoch hatte sie ihr Schlüsselerlebnis: "Das Geheimnis der Sprache lag plötzlich offen vor mir. Ich wusste jetzt, dass 'Wasser' jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand strömte ... Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erregte einen neuen Gedanken." Die Tragweite dieser Worte kommen in diesem Zitat von Helen Keller zum Ausdruck: "Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wusste ich nicht, dass ich vorhanden war."[1]

Dieser Zustand von Helen Keller vor ihrem Schlüsselerlebnis lässt uns erahnen in welcher Welt Hirntote "leben". Selbst wenn das Gehirn in der Lage wäre, die vom Hörnerv kommenden Signale zu verarbeiten, es würde die neuronale Datenbank fehlen, um diese Geräusche interpretieren zu können. Die Geräusche von "Ich liebe dich" oder "Ich danke dir für alles" oder "Bitte verlasse mich nicht" würden sich für den Hirntoten wie ein leichter Wind im Laubwald anhören, das für ihn dazu ein völlig neues Geräusch wäre. Er würde nur wissen, dass es ein Geräusch ist.

Anhang

Anmerkungen

  1. Mit zunehmendem Alter verlieren wir die Fähigkeit, die hohen Töne zu hören.

Einzelnachweise

  1. Helen Keller. Zitiert nach: Christiane Stenger: Wer lernen will, muss fühlen. Wie unsere Sinne dem Gedächtnis helfen. Reinbeck 2016, 170.