Silke Schicktanz, Sabine Wöhlke
Leben im Anderen
Silke Schicktanz Sabine Wöhlke verfassten im Buch "Transmortalität" den Beitrag "Leben im Anderen".[1] Darin heißt es:
Der Film verdeutlicht, dass die Transplantationsmedizin zu ganz unterschiedlichen Grenzverschiebungen führt, die sich auf biotechnischer, ethisch-moralischer oder soziokultureller Ebene hinterfragen und interpretieren lassen. (76) |
Die Transplantationsmedizin brachte keine Grenzverschiebung, da es zuvor die medizinischen Möglichkeiten nicht gab und somit auch keine Grenzen.
Die meist explizite, manchmal auch implizite Rede vom moralisch erstrebenswerten Altruismus führte bereits in den späten 1960er Jahren zu einer stabilisierenden Wirkung von kulturellen und sozialen Werten und Normen, da die Transplantationsmedizin selbst die Grenze von Leben und Tod verwischt und neu definiert und somit erst einmal tradierte Werte und Vorstellungen destabilisiert (Obrecht 2003, Schlich 1998). Diese neuen, ungewohnten Grenzen sind auch auf der individuellen Ebene mit einer großen Unsicherheit verbunden. Die Patienten müssen den Prozess der 'Abstoßungsreaktion', d.h. die Abgrenzung nach außen und die Integration des Fremden mittels Immunsuppression und Organphantasien (Decker 2006), bewältigen. (79) |
Die Medizin brachte den Hirntod hervor, nicht die Transplantationsmedizin. Siehe: Chronik/Hirntod
Begrifflichkeiten wie Hirntod oder Organspendeausweis als kulturelles Selbtverständnis wurden zwar etabliert, trotzdem bleiben Unsicherheiten bestehen (Crouch/Elliott 1999), 286; Wiesemann 2015). (80) |
Wenn man mitdiskutiert statt sachlich korrekt und umfassend aufzuklären, kann man noch Jahrhunderte lang im Nebel der Halb- und Unwahrheiten philosophieren.
Diese konfligieren mit den eigenen Vorstellungen vom Körper, insbesondere, wenn nicht auf ein dualistisches Körperkonzept rekurriert wird, das zwischen Selbst bzw. Verstand und dem Körper trennt. (80) |
Ein "dualistisches Körperkonzept" ist unbekannt, bekannt hingegen ist ein "dualistisches Menschenbild". Meist wird hierbei auf René Descartes Bezug genommen. Bei aller Kritik an seinem Menschenbild bleibt es doch Faktum, dass unsere menschliches Gehirn den Geist hervorbringt. Ohne Gehirn gibt es keinen Geist.
Der Prozess des Organaustausches wird seitens der Betroffenen und Laien eher als ein sozialer Prozess der Rezipozität und Gegenseitigkeit beschrieben, in den Vorannahmen über soziale Zusammengehörigkeit, Vorleistungen und Anerkennung einfließen (Schweda, Schicktanz 2009b, Hoeyer/Schicktanz/Deleuran 2013). (81) |
Organe werden nicht getauscht, sondern gespendet, verschenkt. Es besteht dabei keine Gegenseitigkeit, sondern eine Einbahnstraße.
So führt eine Lebendorganspende häufig zu empfindlichen Verschiebungen in dem bereits lange bestehenden Bezieungsnetz einer Familie (81) |
Worin sollen diese Verschiebungen bestehen?
{{Zitat2|Entgegen der sowohl postmodernen als auch medizinisch-naturwissenschaftlichen Tendenz, immer neue Zwischenstufen einzuführen oder Fluidität und Ambivalenz als produktive Ansätze zu vertreten (siehe ähnlich: Hazan 2015), scheinen für Laien und Betroffene strukturierte Dualitäten (wie technisch vs. natürlich, lebendig vs. tot, sichtbar vs. unsichtbar oder gesund vs. krank) eine große Orientierungsbedeutung zu haben. Es geht bei der Organspende nicht um die Einführung von Zwischenstufen, sondern um das Retten von Menschenleben.
Dabei spielt die Unterscheidung von totem und lebendigem Körper vor allem dort eine Rolle, wo es um die Legitimierung der Organentnahme geht. (81) |
Es geht bei der Organentnahme nicht um um die Frage von totem oder lebenden Körper - Organentnahme braucht immer einen lebenden Körper -, sondern um die Frage um toten oder lebenden Menschen.
Die anthropologische Unsicherheit, ob der Hirntod als eindeutiges Todeskriterium des Menschen anzunehmen sei (Müller 2011, Lock 200), führt auch zu einer moralischen Unsicherheit in Bezug auf die Einwilligung in eine postmortale Organspende. (81) |
Anthrologisch sind Hirntote tot. Siehe: Todesverständnis
Sie kann gerade in der Praxis dazu führen, die Lebendorganspende systematisch vorzuziehen und als die moralisch akzeptablere Form der Organspende zu verteidigen. (81) |
Bei der Lebendspende muss der Empfänger vor Durchführung der Organtransplantation zuerst mind. 6 Monate bei ET für eine Totspende gelistet sein, weil der Todspende den Vorrang gegeben wird. Die Verteidigung der Lebendspende als bevorzugte Form wird von denen betrieben, die Organspende nur oberflächlich kennen.
Nach Schneider sind Organtransplantationen als 'Prothesen' zu bezeichnen, auf die der Körper unterschiedlich reagiere - tolerant, duldsam oder abweisend. Bei jeder Transplantation von Organen stellt sich daher die Frage, ob der Körper das 'fremde' Gewebe akzeptieren wird. (84) |
Nur bei der Transplantation von eineiigen Mehrlingen akzeptiert der Körper das fremde Organ. Bei allen anderen Transplantationen von Organen gibt es körperliche Abstoßungsreaktionen.
Dabei entstehen 'verfügbare' Deutungskonzepte und Unterscheidungen darüber, was einen Menschen ausmacht, was den einen als (mehr oder weniger) menschlich oder das andere als (mehr oder weniger) nicht-menschlich ausweist oder was vielleicht als sowohl lebendig als auch nicht-lebendig zu betrachten ist. (85) |
Die Deutungskonzepte können nur dadurch entstehen, indem klare Begriffe und Definitionen ignoriert werden.
Mit der Dingifizierung beschreiben wir den Prozess, in dem das menschliche Organ im Kontext der Organentnahme von einem Teil eines lebendigen Ganzen zu einem "Ding" gemacht wird (vgl. Lindemann 2005). (85) |
Diese "Dingifizierung" - warum kann man hier nicht "Verdinglichung" sagen? - geschieht weder durch Transplantierte und ihren Angehörigen noch durch Mediziner, sie erfolgt durch Philosophen.
Es ist nur ein Herz wie jedes anderes; das Organ hat mit der Persönlichkeit des Spenders nichts zu tun. Hinzu kommt, dass es meist auch als unbelebt konzpiert wird. Vitalität lässt sich grundsätzlich schlechter von Vorstellungen zu Bewusstsein trennen (Lindemann 2002). So kann Dingifizierung im Kontext einer Technisierung oder Mechanisierung des Körpers erfolgen, die besagt, dass das Herz nur eine Pumpe, die Niere nur ein Filterapparat sei. (85) |
Niere ist mehr, denn sonst könnte die beste Dialyse mehr als 30% einer Nierenleistung erbringen.
Dieses Argument beruht nicht auf mangelndes Wissen gegenüber den medizinischen Verfahren einer Hirntoddiagnostik. Es geht vielmehr davon aus, dass der Prozess einer Dingifizierung von der Medizin nicht überprüft werden kann. (86) |
Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Ergebnissen der Umfragen der BZgA unter der Bevölkerung, wonach sich die meisten Menschen zu wenig aufgeklärt fühlen. Sieht man die Diskussionen an - selbst auf wissenschaftlicher Ebene -, ist festzustellen, dass es kaum einen Diskussionsteilnehmer gibt, der den Hirntod fehlerfrei darstellt. Siehe:
Ein anderer Zugang zur Dingifizierung ist die Bewertung nach Produktionsmitteln und Produktionskreisläufen bzw. -ketten. In dem spätmodernen phänomenologischen Grundmustern der Dingifizierung müssen Dinge selbst in einem ewigen Prozess der Produktion, Verwertung, Entsorgung und Wiederverwertung betrachtet werden (Schlich/Wiesemann 2001, Walby/Mitchel 2006). (86) |
Organe sind keine Produkte. Siehe: Diffamierung
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Anhang
Anmerkungen
Einzelnachweise
- ↑ Silke Schicktanz, Sabine Wöhlke: Körperanthropologische Deutungsmuster in der Organtransplantation. In: Antje Kahl et al. (Hg.): Transmortalität. Organspende, Tod und tote Körper in der heutigen Gesellschaft. Weinheim 2017, 75-105.