Visuelle Wahrnehmung

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Visuelle Wahrnehmung bezeichnet in der Physiologie des Menschen und der meisten Tiere die Aufnahme und Verarbeitung optischer Reize, bei der über Auge und Gehirn eine Extraktion relevanter Informationen, Erkennung von Elementen und deren Interpretation durch Abgleich mit Erinnerungen stattfindet. Somit geht die visuelle Wahrnehmung weit über das reine Aufnehmen von Information hinaus.

Signale zum Sehzentrum

Von der Netzhaut gehen die Informationen beider Augen über Millionen Fasern der beiden Sehnerven zur "Kreuzung". Durch den dort erfolgten Signalvergleich ist uns räumliches Sehen möglich. Wir können Entfernungen abschätzen. Danach gehen die Informationen weiter zum Thalamus. In Absprache mit höheren Netzwerken entscheidet der Thalamus, welche Informationen zum Großhirn dürfen. Rund 1 Mio. Neuronen im Thalamus beschäftigen sich mit den visuellen Informationen. Im Sehzentrum verarbeiten rund 200 Mio. Neuronen die weitergeleiteten Informationen.[1]

Sehzentrum

Das Sehzentrum (Visueller Kortex) im Hinterkopf enthält keine neuronalen Detektoren für Punkte, sondern nur für Striche. Damit arbeitet unser Sehzentrum nicht pixelorientiert, sondern vektororientiert. Auf hierarchisch höherer Ebene synthetisieren hochkomplexe Neuronen aus den von den primären Detektoren gelieferten Einzelinformationen ein "L" oder ein "X".
Für die Gesichtserkennung gibt es kein "Schwiegermutterneuron", an dem die Schwiegermutter erkannt wird. Statt dessen wird anhand gespeicherter physiognomischer Merkmale (Aussehen von Augen, Mund, Nase und Gesichtszüge) aus dem Gedächtnis abgerufen und in einer "Konvergenzzone" des Gehirns die Teile so lange zu verschiedenen Phantombilder zusammengesetzt, bis das zur Realität passe Bild vor dem "inneren Auge" erscheint. Untersuchungen haben gezeigt, dass dabei auch der zinguläre Kortex (Gyrus cinguli) und das Stirnhirn beteiligt sind.[2]

Ablauf der visuellen Wahrnehmung

Martin Trepel zählt in seinem Buch "Neuroanatomie" jedes einzelne Neuron auf, über die die Informationen von der Netzhaut zur Sehrinde gelangen:[3]

  • 1. Neuron
    Das 1. Neuron sind die Sinneszellen in der Netzhaut (Retina). Als Zapfen oder Stäbchen nehmen sie das Licht auf und wandeln sie in elektrische Signale um.
  • 2. Neuron
    Das 2. Neuron übernimmt bereits in der Netzhaut eine erste Verarbeitung der elektrischen Signale. Dazu gehören die Horizontalzellen, die Bipolarzellen und die Amakrinen Zellen.[Anm. 1]
  • 3. Neuron
    Das 3. Neuron bildet den Sehnerv (N. opticus). Er führt über die Kreuzung der Sehnerven (Chiasma opticum) weiter zum Corpus geniculatum laterale des Thalamus. Vorher gibt er Kolleteralen zum Hypothalamus, zur Area pretectalis und zum Tectum des Mittelhirns ab.
  • 4. Neuron
    Das 4. Neuron übernimmt im Thalamus das Signal und leitet es in der breit angelegten Sehstrahlung (Radiatio optica) zur Sehrinde fort.

Etwa 90% der Fasern des Sehnervs enden im Thalamus, rund 10% enden im Hypothalamus (Beeinflussung des zirkadianen Rhythmus), der Area pretectalis (Verschaltung des Pupillenreflexes) und den Colliculi superiores des Mittelhirns (Auslösung von Reflexen wie z.B. Lidschluss-Reflex bei plötzlich näher kommenden visuellen Reizen).[3]

Es wird in der Sehbahn zwischen zwei Systemen unterschieden, die von der Netzhaut bis zur Sehrinde parallel verlaufen. Erst dort beginnen sich die beiden funktionellen Systeme topisch voneinander zu trennen:[3]

  • Magnozelluläres System
    Das magnozelluläre System dient mit seinen großzelligen Neuronen der Wahrnehmung von Bewegungen.
  • Parvozelluläres System
    Das parvozelluläres System arbeitet wie eine Digitalkamera. Es bringt die hochauflösenden, farbigen Informationen zur Sehrinde.

Die Sehrinde wird in eine primäre und eine sekundäre Sehringe unterschieden:[4]

  • Primäre Sehrinde
    In der Area 17 nach Brodmann erfolgt die zerebrale Bewusstwerdung der visuellen Impulse aus der Netzhaut. Eine Interpretation bzw. ein erkennendes Zuordnen erfolgt hier noch nicht. Rund 80% der primären Sehrinde besitzt die Aufgabe des Scharf-sehens.
  • Sekundäre Sehrinde
    In der Area 18 nach Brodmann liegt die klassische Sehrinde. Sie umfasst Area 17 hufeisenförmig. In Area 18 werden die visuellen Informationen "analysiert und aufgelöst nach Farbe, Größe, Form, Orientierung und Entfernung eines Objekts. Weitere Kortexareale, die an der sekundären Verarbeitung visueller Impulse beteiligt sind, reichen über den Okzipitallappen hinaus in den Parietallappen und bis weit in den ventralen Temporallappen hinein (...). Hier wird die visuelle Information interpretiert und mit gelernten Inhalten verknüpft (z.B. Gegenstände erkennen, Geschwindigkeiten abschätzen, Schrift erkennen/lesen etc.). Einzelnen z.T. eng umschriebenen Bereichen kommen dabei sehr spezifische Aufgaben zu, z.B. das Erkennen von Gesichtern, von bestimmten Formen, von räumlichen Anordnungen, von Farben etc."[4]
    Die sekundäre Sehrinde ist u.a. mit dem frontalen Augenfeld im Frontallappen verbunden. Hierüber erfolgt die Ab- und Zuwendung des Blicks und rasche Korrekturbewegungen der Augen.

Die Signale des magnozellulären und parvozellulären Systems werden in der sekundären Sehrinde getrennt für die primäre Sehrinde aufbereitet.[5]

Ablauf der visuellen Wahrnehmung II

"Die elektronische Signalverarbeitung in Rezeptoren, Bipolarzellen, Horizontalzellen und amakrinen Zellen erfolgt über fein abgestufte Änderungen des Membranpotenzials, synaptische Übertragung und postsynaptische Potenziale. Erst an den Ganglienzellen treten innerhalb der Retina erstmalig Aktionspotentiale auf."[6]

Die Nervenfasern der Sehnerven ziehen von den Augen zentralwärts zur Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum), wo sich die nasalen Fasern der Netzhaut kreuzen, während die temporalen ungekreuzt weiter verlaufen. Danach verlaufen die gekreuzten nasalen und ungekreuzten temporalen Fasern gemeinsam im Tractus opitcus zum Coprus geniculatum laterale (CGL). Auf dem Weg zum CGL gab es Abzweigungen zum Prätektum und zu den Colliculi superiores. Das CGL ist eine im Thalamus gelegene Schaltstation der Sehbahn. In ihr erfolgt eine monosynaptische Übertragung von den Sehnervenfasern auf die genikulären Schaltzellen, deren Axone ohne weitere Verschaltung als Ratio opica in die Eingangsschichten der primären Sehrinde (Area 17) ziehen.[7]

"Bereits in der Netzhaut beginnt eine Parallelverarbeitung von spezifischen Reizen (Form, Farbe, Tiefe, Bewegung, Helligkeit), die in getrennten Projektionssystemen zu unterschiedlichen subkortikalen Regionen weitergeleitet werden. In der Retina werden drei größere Ganglienzellklassen unterschieden: die magnozellulären Ganglienzellen (M-Zellen, 10%) mit großen Zellkörpern und Dendritenfeldern als Ursprung des magnozellulären Systems, die parvozellulären Zellem (P-Zellen, 80%) mit kleineren Zellkörpern und kleinen Dentritenfeldern als Ursprung des parvozellulären Systems und eine heterogene Gruppe retinaler Zellen (10%) mit kleinen Somata, aber großen särlich verzweigten Dendritenfeldern, zu denen auch die K-Zellen als Ursprungszellen des koniozellulären Systems gehören.

  • Die P-Zellen antworten eher tonisch auf konstante Lichtreize, sind farbempfindlich (Rot-Grün), haben kleine rezeptive Felder und eine hohe räumliche Auflösung und bieten damit die Grundlage für die Formanalyse und das Farbsehen.
  • Die M-Zellen haben größere rezeptive Felder, sie antworten phasisch und mit hoher Kontrastempfindlichkeit auf Leuchtdichteänderungen im rezeptiven Feld und sind besonders mit Tiefenwahrnehmung und Bewegungssehen verbunden.
  • Die K-Zellen sind farbempfindlich für Blau."[8]

Der N. opticus bringt die Informationen vom Auge zur Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum). Der Tractus opticus bringt die Informationen von der Sehnervenkreuzung zum CGL.[8]

Das Coprus geniculatum laterale (CGL) ist eine beidseitig angelegte Schaltstation im Thalamus. In ihr werden die Signale weiterverarbeitet und moduliert. Einflüsse nicht-visueller Regionen des Hirnstamms, interne Hemmnetzwerke sowie Rückprojektionen vom Cortex führen im CGL zu vielfältigen Interaktionen.[9]

In der primären Sehrinde (Area 17) sind 6 Schichten in einer Dichte von etwa 3 mm für die Aufnahme der Signale bereit. Die Haupteingangsschichten sind die Schichten 4 und 6. Die Informationsverarbeitung erfolgt in erster Linie in den Schichten 2 und 3. Ausgänge bilden Pyramidenzellen in den Schichten 5 und 6. Verbindungen zu anderen Gehirnregionen entspringen den Schichten 3 und 4. Die Mehrzahl der Neuronen in der primären Sehrinde antworten spezifisch auf Reize (z.B. Lichtbalken).[9]

Bei Primaten erfolgt in der sekundären Sehrinde (Area 18-21)[Anm. 2] eine Parallelverarbeitung von Farb-, Muster-, Bewegungs- und Tiefeninformationen in getrennten Strukturen. Die weitere Verarbeitung erfolgt in hierarchisch aufeinander aufbauenden visuellen Zentren, die jeweils reziprok miteinander verbunden sind und Querverbindungen aufweisen.[10]

"Als Antwort auf einen Lichtreiz entsteht in der Sehrinde das visuell evozierte Potenzial (VEP), das mit einer differenten Elektrode vomSchädel okzipital abgeleitet werden kann (...). Das VEP ist Ausdruck des Eintreffens und der Weiterverarbeitung visueller Signale in der Hirnrinde. Nach Lichtblitz oder Schachbrettmusterwechsel (schwarze Felder werden weiß, weiße schwarz) treten typische Wellen auf (...). Bereits nach etwa 25-30 ms ist die erste negative Welle (N1) sichtbar. Besonders wichtig für die Diagnostik ist die ausgeprägte positive Welle P2 ("P100")m deren Gipfellatenz im Bereich von 90-120 ms liegt und am besten reproduzierbar ist."[11]

Anhang

Anmerkungen

  1. Trepel gibt hierzu an: "Der Verlauf der Sehbahn von der Retina bis zur primären Sehrinde über vier Neurone ist der direkteste und kürzeste denkbare Weg. Da jedoch in der Retina z.T. Zwischenneurone zwischen den bipolaren und den Ganglienzellen geschaltet sind, die z.B. der Kontrastschärfung der visuellen Information dienen (...), hat der intraretinale Anteil der Sehbahn z.T. auch bereits vier Neurone, sodass in manchen Darstellungen die Sehbahn einschließlich der Sehstrahlung auch mit insgesamt fünf Neuronen (5. Neuron im Corpus geniculatum laterale) angegeben wird."
  2. Im Buch wird von den "höheren visuellen Kortexarealen" gesprochen, wobei weitere Areale, die beim Sehen aktiv sind, mit eingeschlossen werden. Hier soll es nicht um die genaue Anatomie gehen, sondern um die funktionellen Abläufe. Daher an dieser Stelle diese Unschärfe.

Einzelnachweise

  1. Christiane Stenger: Wer lernen will, muss fühlen. Wie unsere Sinne dem Gedächtnis helfen. Reinbeck 2016, 112f.
  2. J. Caspar Rüegg: Gehirn, Psyche und Körper. Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie. 5. Aufl. Stuttgart 2011, 16.
  3. a b c Martin Trepel: Neuroanatomie. Struktur und Funktion. 7. Auflage. München 2017, 234.
  4. a b Martin Trepel: Neuroanatomie. Struktur und Funktion. 7. Auflage. München 2017, 236.
  5. Martin Trepel: Neuroanatomie. Struktur und Funktion. 7. Auflage. München 2017, 238.
  6. Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 785
  7. Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 790.
  8. a b Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 792.
  9. a b Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 793.
  10. Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 795.
  11. Klinke, Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl: Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart 2014, 797.