Ralf Stoecker

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[https://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Stoecker Ralf Stoecker (* 1956) ist ein deutscher Philosoph für Praktische Philosophie, seit 2013 an der Universität Bielefeld. 1990 promovierte er zur Frage "Was sind Ereignisse?". 1999 habilitierte er mit der Arbeit "Der Hirntod. Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation".[1]


Sonstiges

Ralf Stoecker lud Alan Shewmon als Referent zu einem Workshop ein. Von den Medizinern kamen Hartmut Schmidt und Eckhard Nagel, wenn auch nur kurz. Die übrigen Mediziner haben abgesagt.[Anm. 1] Dies bedauerte Ralf Stoecker ("was schade ist"). "Um so erfreuter sind wir, daß aus den Bereichen Philosophie und Recht sehr wichtige Vertreter gekommen waren."[2]

Schriften

Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende (2019)

2019 veröffentlichte Ralf Stoecker den Beitrag "Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende" in dem von Stephan M. Probst herausgegebenen Sammelband "Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht".[3] Darin heißt es:

Eines der Problem der Transplanteure lag aber darin, möglichst gut erhaltene Spenderorgane zu bekommen; und die bis dahin übliche Praxis, den Herzstillstand eines Organspenders abzuwarten, eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen um dann den Tod zu erklären und die Organe zu entnehmen, schädigte diese Organe ganz erheblich. (86)

Bei DCD wird der 5- bis 10-minütige Herzstillstand dem Tod des Menschen gleichgesetzt. Damit ist es auch hier eine Todesfeststellung, wenngleich auch eine indirekte, aber keinesfalls eine Todeserklärung.

Beide Probleme - ob man die künstliche Beatmung irgendwann beenden und ab wann man Spenderorgane entnehmen dürfe - fanden eine gemeinsame Lösung in dem Verdacht, dass zumindest ein Teil der intensivmedizinisch behandelten Patientinnen und Patienten schon tot waren, obwohl sie beatmet wurden und ihr Herz noch schlug. Sie waren tot, so die Annahme, weil ihre Gehirne tot waren. Das war die Geburtsstunde der Hirntod-Konzeption des Todes. (86)
Und es war, wie gesagt dieses Hirntod-Konzeption des Todes, die den Intensiv- und Transplantationsmedizinern die ersehnte Lösung ihrer Problem verschaffte: Wenn die betreffenden Patienten tot waren, gab es keine Verpflichtung, sie länger intensivmedizinisch zu behandeln. Wenn wie tot waren, wurde es allerdings auch möglich, sie noch eine Zeit lang weiter zu beatmen, um dann schließlich ihre Organe zu entnehmen. (87)

Siehe: Pierre Wertheimer

Von 1992 bis 1997 gab es deshalb in Deutschland eine teilweise erbittert geführte Debatte, ob hirntote Menschen tatsächlich tot sind, die zwar mit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes schell abebbte, aber gut zehn Jahre später wieder aufgenommen wurde, als das President´s Conuncil on Bioethics, eine Art Nationaler Ethikrat des amerikanischen Präsidenten George W. Busch, ein sogenanntes Weißbuch herausbrachte, in dem die am weitesten verbreitete medizinische Begründung für die Hirntod-Konzeption, auf die sich die Ärzteschaft auch in Deutschland hauptsächlich berufen hatte, massiv kritisiert und zurückgewiesen wurde. Spätestens seit dieser Zeit ist es durchaus wieder offen, ob man wirklich annehmen sollte, dass hirntote Menschen tot sind oder nicht. (88)

Siehe: PCB

Doch es gibt zwei sehr starke Argumente gegen diese Begründung. Erstens gibt es auch Menschen, bei denen innen (!) definitiv das Licht ausgeht, ohne dass das ganze Gehirn seine Funktion einstellt. Sie liegen im Wachkoma oder genauer, sie zeigen ein Syndrom reaktionsloser Wachheit, und zumindest bei einem Teil von ihnen kann man davon ausgehen, dass sie definitiv keinerlei bewusstes erleben mehr haben. Zugleich zeigen sie aber, wie es die Bezeichnung 'Wachkoma' schon andeutet, verschiedene Merkmale, die für uns stark darauf hindeuten, dass sie noch am Leben sind: Schlaf-Wach-Zyklen, Spontanatmung, Körperbewegungen. Nicht immer, so scheint es, bedeutet ein unwiderruflicher Bewusstseinsverlust den Tod eines Menschen. (89)

Siehe: Koma und Todesverständnis

Auch wenn man nur auf das Bewusstsein schaut, dann muss man feststellen, dass bei der weitaus größten Zahl von Lebewesen auf der Erde keine Rede von Bewusstsein ist, und trotzdem leben diese Wesen. Pflanzen, niedere Tiere usw. leben und können sterben. Leben, kann man sagen, muss eine allgemeine, biologische Eigenschaft sein, also muss auch der menschliche Tod darin bestehen, dass diese Eigenschaft verloren geht. (90)

Siehe: intermediäres Leben und Todesverständnis

Alan Shewmon ... bestreitet deshalb entschieden, dass es im Körper überhaupt so etwas gäbe wie ein Steuerungsorgan, ohne das der Körper kein dynamisches System mehr wäre. (90)

Siehe: Alan Shewmon

Hirntote seien tot, so das Council, weil sie ihre grundsätzliche Offenheit gegenüber ihrer Umgebung und die Fähigkeit, Einfluss auf diese Umgebung zu nehmen, verloren hätten. Ich muss allerdings gestehen, das ich diesen Vorschlag entweder einfach nicht verstehe, oder er offenkundig falsch ist. Allein die Tatsache, dass die Lunge des Hirntoten nach wie vor Sauerstoff aufnimmt, zeigt doch beispielsweise, dass das System auf seine Umgebung zweckmäßig reagiert. (91)

Einen frisch Verstorbenen könnte man auch noch stundenlang künstlich beatmen und die Lunge würde noch Sauerstoff an das Blut abgeben und das CO2 des Blutes an die Atemluft.

In der Liste der Fähigkeiten, die der hirntote Körper immer noch aufweist, sind einige, die nur dem Arzt zugänglich sind, andere aber, wie auch von außen deutlich erkennbar sind, am deutlichsten die Schwangerschaft einer hirntoten Frau. Das führt zu dem prominentesten Argument gegen die Hirntod-Konzeption. Ihm zufolge sind hirntote Patienten vie zu lebendig, als dass man sie als tot ansehen könnte. (91)

Siehe: schwangere Hirntote und Leben der Hirntote

Hält man an der Hirntod-Konzeption fest, so wie dies in Deutschland üblich ist, dann verlangt man also von den Angehörigen, aber auch von Pflegenden und Ärzten, dass sie eine so grundlegende Veränderung akzeptieren, wie sie der Übergang vom Leben zum Tod darstellt, ohne dass sich etwas an ihrem Erleben der Situation geändert hätte. Das ist auf jeden Fall eine psychologische Belastung. (91)

Weil man sich nicht bemüht, den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthoprologische Tragweite für das Menschsein verstehen will, geht man den bequemen Weg, alles beim Alten zu belassen. Diesen Weg will dieses Organspende-Wiki nicht gehen, sondern sachlich korrekt und umfassend über Hirntod aufklären.

Aus der Sicht von Gegnern der Hirntod-Konzeption ist es aber auch ein Grund, diese Konzeption ganz zurückzuweisen. Leben und Tod haben aus dieser Sicht auch so etwas wie eine phänomenale Seite, die es verbiete, einen lebendig erscheinenden Menschen als 'heimlich tot' anzusehen. (91)

Siehe: Phänomen-Ebene

Wie gesagt, dies sind nur die wichtigsten Argumente für oder gegen die Hirntod-Konzeption, und zumindest meine kursorische Diskussion zeigt, dass keines dieser Argumente wirklich überzeugen kann. Jedenfalls zeigen sie nicht, dass hirntote Menschen schon tot sind. (92)

Das ist eine Vorwegnahme eines Urteils. Siehe: Todesverständnis

Damit stellt sich die spannende Frage, was wir dann tun sollen. Wie sollen wir auf diesen unbefriedigenden Status der Hirntoddebatte reagieren? (92)

Mit einer sachlich korrekten und umfassenden Aufklärung.

Therapeutische Maßnahmen sind an mindestens zwei Bedingungen geknüpft, Indikation und aufgeklärte Einwilligung, ... (92)

Wenn jemand bewusstlos aufgefunden wird, ist zwar eine Indikation gegeben, aber keine aufgeklärte Einwilligung. Hat der Patient einen Suizidversuch unternommen, wird sogar gegen seinen Willen mit der entsprechenden Therapie begonnen. Es fehlt hier somit nicht nur die aufgeklärte Einwilligung, sondern es wird sogar bewusst gegen den (aktuellen) Willen des Patienten gehandelt.

Wenn wir nicht wissen, ob hirntote Menschen tot sind, dann sollten wir auf Nummer sicher gehen und ihnen keine Organe entnehmen. (93)

Siehe: Todesverständnis und Therapieende

Was den Bündelbegriff Leben so suggestiv macht, ist gerade, das seine charakteristischen Merkmale praktisch gleichzeitig enden. Im Tod, so wie wir ihn traditionell kennen, verliert ein Mensch nahezu synchron seine personalen, biologischen und phänomenalen Eigenschaften. Deshalb ist es so unmittelbar einleuchtend, den Tod mit einem dieser drei Verluste zu drei Verluste zu identifizieren. (95)

Siehe: Sterbeprozess und intermediäres Leben

Erst durch die Entwicklung der modernen Intensivmedizin kann es heute geschehen, dass die Verluste der drei Merkmale signifikant auseinanderfallen, dass also die personalen Aspekte entscheidend früher verloren gehen als die biologischen oder phänomenalen. Der Tod auf der Intensivstation ist gegenüber dem traditionellen Tod sozusagen ausgefranst. (95)

Siehe: intermediäres Leben, Phänomen-Ebene, Scheintod und Todesverständnis

Es ist eine Grauzone der Verwendung des Lebensbegriffs entstanden, in der man nicht so recht weiß, ob die betreffende Person noch am Leben ist oder nicht. (95)

Bei Hirntod ist der Mensch tot. Siehe: Todesverständnis

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Der Hirntod (2010)

Ralf Stoecker veröffentlichte 2010 das Buch "Der Hirntod".[4] Darin heißt es:

Prominentestes Indiz für diesen Wandel war die ausführliche Stellungnahme 'Controversies in the Determination of Death' des 'Prresident´s Councill on Bioethics' im Dezember 2008, in der jedenfalls alle bis dato diskutierten Begründungen der Hirntod-Konzeption in Bausch und Bogen für untauglich erklärt wurden. (XVI)

Es gab bis dahin 2 Hauptargumente: 1. Mit dem Hirntod ging die zentrale Steuerung für die grundlegenden Funktionen des Körpers (Homöostase) verloren. 2. Mit dem Hirntod sind alle geistigen Fähigkeiten erloschen. Das PCB konnte nur 1. relativieren, 2. blieb unangetastet.

Spätestens seit Mitte der Sechszigerjahre des letzten Jahrhunderts wird über die Frage nachgedacht, ob Menschen, deren Gehirn abgestorben ist, schon tot sind oder nicht. In Deutschland geschah dies vor allem in den Jahren zwischen 1992, als der Fall des so genannten Erlanger Babys große öffentliche Aufmerksamkeit erregte, und 1997, als der Deutsche Bundestag das Transplantationsgesetz verabschiedete und sich damit (nach verbreiteter Leseart) hinter die Hirntod-Konzeption stellte. (XIX)

Bereits in den 1960-er Jahren entwickelte sich in Medizin und Recht die Überzeugung, dass Hirntote als Tote anzusehen ist. Die genannte Diskussion der 1990-er Jahre wurde vor allem philosophisch, theologisch und politisch geführt. Für die Medizin blieben Hirntote nach wie vor Tote.

Spätestens in den siebziger und achtziger Jahren etablierte sich deshalb in der medizinischen Ethik die Einsicht, dass es unter Umständen besser sein kann, einen Menschen medizinisch im Sterben zu begleiten, anstatt ihn mit allen Mitteln am Sterben zu hindern. Und niemand bezweifelte, dass dies auch auf hirntote Patienten zutraf. (XXIf)

Für die überwiegende Zahl der Mediziner war schon in den 1970-er Jahren klar und blieb dies bis heute, dass Hirntote keine Patienten sind, sondern Tote. Daher ist der letzte Satz unzutreffend.

Hirntote haben zwar viel geringere homöostatische Fertigkeiten als ein gesunder Mensch, so dass sie auf die Unterstützung der Intensivmedizin angewiesen sind, damit ihr Organismus nicht 'entgleist'; anders als Leichen haben sie aber immerhin noch genügend dieser Fähigkeiten, um die medizinischen Unterstützungsmaßnahmen überhaupt erst möglich zu machen. (XXVI)

Siehe: Sterben auf der Intensivstation

Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ für die Aufrechterhaltung des menschlichen biologischen Lebens, aber auch das Gehirn ist nicht unverzichtbar. (XXVII)

Siehe: Menschenbild, Todesverständnis

Gemäß der Hirnstamm-Konzeption des Todes müssten allerdings auch Menschen als tot rubriziert werden, die nach gewöhnlichem Verständnis eindeutig noch leben, insbesondere Patienten mit einem vollständige Locked-in-Syndrom, die zwar bei Bewusstsein sind, jedoch keine Möglichkeit haben, sich zu äußern. (XXVII)

Siehe: Locked-in-Syndrom

Es führt kein Weg daran vorbei, die Dead Donor Rule hinter sich zu lassen. (XLIX)

Doch, eine sachlich korrekte und umfassende Aufklärung über Hirntod.

Ob Hirntote tot sind, ist eine philosophische Frage, und zwar sogar in einem doppelten Sinn. Erstens muß man sie mit philosophischen Methoden beantworten, und zweitens braucht man die philosophische Perspektive, um einzuschätzen, was man überhaupt mit dieser Antwort erreicht hat. (18)

Die Frage kann nur - ob medizinisch, juristisch, philosophisch oder theologisch - korrekt beantwortet werden, wenn der pathophysiologische Zustand und anthropologische Tragweite des Hirntodes korrekt verstanden wurde.

In keinem Sinn ist ein hirntoter Mensch tot (20)
Deshalb ist es wenig verwunderlich, wenn sich keine allgemein anerkannte, überzeugende Antwort auf die Frage finden läßt, ob der Mensch tot ist oder nicht. So wie man nicht weiß, ob Bungiee-Springen ein Spiel ist, selbst wenn man genau weiß, wie es vor sich geht, so weiß man eben auch nicht, ob Hirntote tot sind, selbst wenn man alle Details des Absterbevorgangs kennt. (47)
Aus metaphysischer Sicht bleibt somit die Ausgangsfrage eindeutig beantwortet: Tot ist ein Mensch genau dann, wenn er nicht mehr lebt, im biologischen Sinn des Lebens, und dieser Zeitpunkt ist mit dem dissoziierten Hirntod noch nicht erreicht. (204)
Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, inwieweit das stimmt, ob also ein kürzeres Leben wirklich besser ist als eines, dem noch die Phase des Hirntodes folgt, aber die Ansicht, daß es für die Biographie eines Menschen überhaupt keine Rolle spielen sollte, ob er die letzten Tage seines Lebens hirntot auf einer Intensivstation lieg, oder ob man seine medizinische Behandlung mit Eintritt des Hirntods abbricht und in fertig sterben läßt, ist schwer nachzuvollziehen. (318)
Mit dem Absterben des Gehirns ist ein wichtiger Markstein, ein Point of no return in diesem Sterbeprozeß passiert, aber noch nicht der Tod selbst. (335)

Siehe: Todesverständnis

Anders ausgedrückt, es fragte sich damals, ab wann der Mensch tot ist, und dahinter stand das Interesse zu wissen, ab wann man mit ihm bestimmte Dinge anstellen durfte - nur daß man es nicht wissen wollte, wie zu Poes Zeiten, um ihn zu beerdigen, sondern um ihm Organe zu entnehmen. Das war der zweite und und vermutlich einflußreichere Faktor, der dazu geführt hat, die traditionelle Herztod-Definition in Frage zu stellen. (36)

Siehe: Chronik/Hirntod und Pierre Wertheimer

Menschen mit einem zerstörten Gehirn sind ihr zufolge tot und stehen damit prinzipiell als Organspender zur Verfügung. (36)

Wenn Hirntote nicht mehr künstlich beatmet werden, bleibt ihr Herz stehen und sie sind dann für die Organspende ungeeignet.

Wenn diese Schwierigkeiten ausgeräumt sind, setzt aber erst die eigentliche Diskussion der Konzeption des cortikalen Todes ein, d.h. es gilt zu überprüfen, ob wirklich dieselben Argumente, die für die Hirntod-Konzeption ins Feld geführt werden können, auch für die weitergehende Teilhirntod-Konzeption sprechen. Das ist angesichts der gravierenden Unterschiede zwischen dissoziiert hirntoten und unwiderruflich apallischen Menschen nicht selbstverständlich. (41)
In der Hirntod-Debatte ging es also um zwei Fragen, erstens ob der Übergang von der Herztod- zur Hirntod-Konzeption akzeptabel ist, und zweitens, ob er nicht in einem nächsten Schritt durch eine der schärferen Teilhirntod-Konzeption ersetzt werden sollte. (42)

Nach über 50 Jahren Hirntodkonzept gibt es nur Stimmen einzelner Leute, aber keine ernstzunehmende Entwicklung, dass das Hirntodkonzept aufgeweicht wird.

Trotzdem werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen immer wieder darauf verweisen, welche Konsequenzen ein bestimmtes Argument für die Konzeption des cortikalen Todes hat, und ich werde in diesem Zusammenhang davon ausgehen, daß es tatsächlich so etwas wie ein endgültig bestehendes apallisches Syndrom ohne jede Empfindungsfähigkeit gibt, auch wenn dies, wie gesagt, keineswegs selbstverständlich ist. (41f)

Bei Hirntod sind nicht nur die geistigen Funktionen - so wie beim apallischen Syndrom - erloschen, sondern auch die physiologischen (Homöostase).

Bei der Hirntod-Debatte ist es dagegen weitgehend unstrittig, daß sie nicht medizinisch-naturwissenschaftlicher, sondern in erster Linie philosophischer Natur ist. (42)

Jede wissenschaftliche Disziplin darf sich gerne an der Hirntod-Debatte beteiligen, nur sollten die Diskussionsteilnehmer zuerst die geschichtliche Entwicklung zum Hirntod sowie fehlerfrei und umfassend den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthropologische Tragweite kennen. Sie sollen wissen, wovon sie reden.

Man muß etwas über das Funktionieren des Gehirns wissen, um sie beantworten zu können. Ob sie aber ganz in den Bereich der Biowissenschaften fällt, hängt davon ab, ob die Eigenschaften, die im Tod verloren gehen, selbst in den Bereich der Medizin oder Biologie fallen. Zählen sie nicht dazu (weil es z.B. psychische Eigenschaften sind), dann ist diese zweite Frage ein interdisziplinäres Unterfangen. (45)

Das Gehirn besteht aus Neuronen. Neurowissenschaft ist ein Teilgebiet der Medizin, nicht der Biologie. Ein "Produkt" des Gehirns ist der Geist. Mit seiner Entstehung beschäftigt sich die Neurowissenschaft und die Psychologie, beide Teilgebiete der Medizin. Die Biologie ist somit hierbei völlig außen vor. Die Philosophie stellt nur fest, dass Geist da ist bzw. fehlt. Wie dieser jedoch naturwissenschaftlich entsteht, ist kein Forschungsgebiet der Philosophie. Daher gehört das Thema Hirntodkonzept völlig und ausschließlich in den Bereich der Medizin.

Der Begriff des Todes hat eine reiche Geschichte und umfassende außerwissenschaftliche Verwendung, als daß es verständlich wäre, weshalb man Medizinern die Expertise zubilligen sollte, mit welchen Eigenschaften resp. Verlusten der Tod verbunden ist. Derartige begriffliche Analysen sind vielmehr ein traditioneller Bestandteil philosophischer Forschung. Deshalb ist die Frage, ob ein hirntoter Mensch tot ist, zuallererst eine philosophische Frage, bevor sie dann auf der zweiten Stufe eine naturwissenschaftliche Dimension hinzugewinnt, um schließlich auf der dritten Stufe, auf der es nur um das Verfahren der Hirntod-Diagnose geht, allein Sache von Medizinern zu sein. (46)

Es ist korrekt, dass die Philosophie traditionell Begrifflichkeiten analysiert. Ob ein Mensch lebt oder tot ist, fällt jedoch primär in den Bereich der Medizin. Siehe: Todesverständnis

Die unversöhnlichen Differenzen zwischen Gegnern und Befürwortern der Hirntod-Konzeption wecken Zweifel, ob eine Analyse des Todesbegriffs überhaupt geeignet wäre, diesen Streit zu schlichten. (46)

Wenn man nicht den Tod der Zellen und des Körpers, sondern den Tod des Menschen im Blick hätte, könnte dieser Streit geschlichtet werden.

... dies anstatt auf mangelhafte begriffliche Einsicht auf eine Unschärfe des Todes-Begriffs zurückzuführen. (47)

Das Problem liegt an der mangelhaften begrifflichen Einsicht und dem mangelnden Übung, über Sterben und Tod korrekt zu sprechen. So ist z.B. nicht der Tod ein Prozess, sondern das Sterben.

Während es bis zur Mitte unseres Jahrhunderts keinen Grund gab, sich um eine Grenze im Ablauf des Absterbens zu bemühen, die es erlaubte, Hirntote diesseits oder jenseits dieser Grenze zu lokalisieren, so daß der Begriff des Todes an dieser Stelle vage bleibt, entstand mit den Fortschritten der Medizin die Notwendigkeit der schärferen Grenzziehung. (49)

Vor 1952 gab es keine Hirntoten, weil Hirntote dauerhaft eine künstliche Beatmung benötigen, die erst 1952 von Björn Ibsen eingeführt wurde.

Gegen die Beschränkung der Untersuchung auf die Bedingungen des Lebens gibt es allerdings einen Vorbehalt, die Feststellung, dass tot zu sein nicht nur bedeutet, nicht mehr zu leben, sondern auch: den Tod erlitten zu haben. Eine Untersuchung der Frage, ob jemand tot ist, sollte jedenfalls auch etwas über den Tod sagen. (55)

Alle Steine sind tote Materie. Keiner von ihnen hat je gelebt und damit den Tod erlitten. Leben und Tod wird von Stoecker mit dieser Aussage nur in Hinblick auf verstorbene Lebewesen - explizit auf verstorbene Menschen - gesehen, nicht im naturwissenschaftlichen und damit globalen oder gar kosmologischen Sinn.

Die Antwort, die ich vorschlagen möchte lautet: Der Tod ist das Sterben. (57)

Sterben ist ein Prozess, der Tod ist eine Definition, ist ein Schnitt in diesem Prozess.

Zweifellos hatte Bloch Recht, daß es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen der Angst vor dem Sterben selbst und dem Grauen des Todes, der sich z.B. darin manifestiert, daß es sowohl möglich ist, das Sterben zu fürchten, nicht aber den Tod, wie auch umgekehrt. Dann aber, so der Einwand, könnte der Tod nicht das Sterben sein. Doch dieser Schluß ist unzulässig. Die Differenzierung zwischen der Furcht vor dem Tod und der vor dem Sterben 'selber' deuten nur darauf hin, daß die beiden Bezeichnungen, obwohl sie fr dasselbe Ereignis stehen, unterschiedliche Konnotationen haben. (57)
Ich komme deshalb zu dem Schluß, daß keiner der genannten Einwände zeigt, daß Tod, Sterben und Lebensende nicht ein und dasselbe Ereignis sind. (61)

Dies widerspricht der Nomenklatur von Sterben und Tod.

Für die Ausgangsfrage ist es nicht wichtig, wie dick die Grenze ist, sondern nur, wie scharf sie ist. So wie die Qualität eines Lineals nicht von seiner Breite abhängt, sondern von der Exaktheit der Anschlagkante, so hängt die Präzision der Auskunft, ab wann ein Mensch tot ist, nicht davon ab, wie lange sich das Sterben hinzieht, sondern davon, wie genau sich das Sterben lokalisieren läßt. Weiß man exakt, wann das Sterben zu Ende ist, dann weiß man auch exakt, ab wann der Mensch tot ist. (66)

Warum wurde dann zuvor seitenlang über die Dicke der Grenze philosophiert? Warum geht es dann wieder mit der Unschärfe der Grenze (sumpfiges und felsiges Ufer) weiter?

Wie scharf die Grenze des Lebens ist und welche Stadien des Absterbens in die Grauzone fallen, welche dagegen nicht, läßt sich nur dadurch klären, daß man untersucht, was es heißt, am Leben zu sein. (67)

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist durch die Definition messerscharf. Die Feststellung des Todes ist immer retroperspektivisch und hinkt daher immer Sekunden und Minuten, meist aber Stunden hinter dem eingetretenen Tod hinter her. Die Sicherheit der Todesfeststellung macht dies notwendig. Wer meint, dass er diese Zeitspanne verkürzen könne, ohne die Sicherheit der Todesfeststellung zu gefährden, darf sich gerne bei den Ärzten melden.

Allein die historische Feststellung, daß es Menschen gegeben hat, die für tot gehalten wurden, ohne wirklich tot zu sein, beantwortet diese Frage nicht, denn stets läßt sich argumentieren, daß es falsche Anzeichen waren, die berücksichtigt wurden. Die Menschen waren sozusagen nicht 'wirklich' scheintot. Es gibt einen anderen, besseren Grund, der für die prinzipielle Möglichkeit des Scheintodes spricht: die Spannung zwischen dem phänomenalen Lebensbegriff und der Endgültigkeit des Todes. (69)

Die Anzeichen waren nie falsch, sondern immer deren Interpretation. - Siehe: Scheintod

Nur dann, wenn klar ist, daß ein wie tot erscheinender Mensch keine phänomenale Lebendigkeit mehr entwickeln wird, ist er tot. Weil aber allein die Möglichkeit zur phänomenalen Lebendigkeit eine hinreichende Bedingung dafür ist, daß jemand lebt, ist die tatsächliche Lebendigkeit keine notwendige Bedingung. (71)

Den Tod auf der Phänomen-Ebene festzustellen, wurde schon im 19. Jh. endgültig abgelegt.

Was man bei ihnen als Anzeichen von Lebendigkeit erachten kann, sind zum einen ihre äußere Erscheinung, d.h. Hautfarbe, Körpertemperatur etc., zum anderen der Herzschlag und die wahrnehmbare Atmung. (Im speziellen Fall hirntoter schwangerer Frauen, wie der Mutter des Erlanger Babys, kommt hinzu, daß sie ein lebendiges Kind im Bauch haben.) Die Lebendigkeit hirntoter Patienten ist also auf wenige Merkmale reduziert, doch andererseits teilen sie diese geringe Lebendigkeit mit vielen anderen Intensivpatienten, von denen sie äußerlich nicht zu unterscheiden sind. (72f)
Was man sich aber fragen kann ist, ob nicht die verbleibenden Lebenszeichen hinreichend sind, um die Hirntoten als lebendig anzusehen. Kann es wirklich sein, daß jemand mit diesen Merkmalen (vor allem mit Herzschlag und Atmungstätigkeit) nicht mehr am Leben ist? (73)

Siehe: Leben der Hirntoten

Noch drängender stellt sich diese Frage bei Patienten mit apallischem Syndrom. Schließlich ist die Bezeichnung dieses Zustands als 'Wachkoma' auf den äußeren Anschein wachen Lebens zurückzuführen, d.h. auf die phänomenale Lebendigkeit, die sie von den eigentlichen Komapatienten abhebt. Wer gleichwohl behaupten möchte, daß ein Teil dieser Patienten schon tot ist (wie es die Befürworter der Großhirntod-Konzeption des Todes tun), muß also zugestehen, daß ein ganz erheblicher Anteil an phänomenaler Lebendigkeit möglich ist, ohne daß ein Mensch lebt. (73)

Siehe: apallisches Syndrom und Hirntod

Außerdem ist nicht einmal sicher, ob wirklich alle Lebewesen die Fähigkeit zum Strukturerhalt haben. (76)

Ohne die Fähigkeit zur Strukturerhaltung kann kein Lebewesen existieren.

Das ist die morphologische Antwort auf die Frage, wann ein Mensch tot ist: Tot ist er dann, wenn die menschentypische Zusammensetzung aus Körperzellen nicht mehr besteht, die erklärt, weshalb es überhaupt Menschen auf der Welt gibt. (79)

Weshalb gibt es denn Menschen auf der Welt?

Leben ist in der Tat eng mit der Fähigkeit verknüpft, sich der Entrophie zu widersetzen, nur ist es nicht die Fähigkeit des einzelnen Individuums, sondern die der Spezies insgesamt, auf die es hier ankommt. (79f)

Es ist aber der Tod nicht an einer Spezies festzustellen, sondern an einem Individuum, hier an einem Menschen. - Ein Mensch, dessen Gliedmaßen aufgrund von Durchblutungsstörungen abfaulen, hat seine Entrophie verloren, dennoch lebt er noch.

Das bedeutet zweitens, daß es wenig plausibel ist anzunehmen, daß ausgerechnet mit dem isolierten Absterben der Zellen im Gehirn die arttypische Struktur des Menschen zerstört sei. (86)

Einige Kriegsverwundeten mussten Arme und Beine amputiert werden. Sie bestehen nur aus Kopf und Rumpf. Noch nie in der Menschheitsgeschichte wurde der Tod des Menschen morphologisch begründet, außer bei mit dem Leben unvereinbaren Verletzungen.

Nur, der dissoziierte Hirntod, geschweige denn der Teilhirntod, befindet sich noch nicht in diesem Bereich, sie bilden aus morphologischer Sicht noch nicht das Ende des Lebens. (86)

Es sind zwar nur die Neuronen des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, aber sie haben sich bis zum Zeitpunkt der Feststellung des Hirntods bereits morphologisch verändert. Siehe: Autolyse

Schon der erste Schritt geht fehl, denn trotz der unbestreitbaren Bedeutung des Gehirns für unser organisches Leben kann bei entsprechender intensivmedizinischer Betreuung auch ein hirntoter Mensch in der Lage sein, seine Struktur zu erhalten, das hat gerade der Erlanger Versuch eindrucksvoll dokumentiert. Folglich hat ein Hirntoter die Fähigkeit zum Strukturerhalt noch nicht verloren, ist also noch nicht tot. (87)
Doch dies ist zum einen nur teilweise richtig, weil auch bei hirntoten Menschen der Körper erheblich zur Systemaufrechterhaltung beiträgt, die Intensivmedizin nur einen Teil der strukturerhaltenden Körperfunktionen ersetzt (das Herz zum Beispiel schläft selbständig, ohne äußere Stimulation). Zum anderen ist die Beatmung Hirntoter keineswegs die einzige Art, einem Menschen extern das Aufrechterhalten seiner Struktur zu ermöglichen. Viele andere Intensivpatienten, Menschen mit Herzschrittmachern, Dialyse-Patienten sind ebenfalls ohne äußere Hilfe nicht in der Lage, ihre Vitalfunktionen aufrecht zu erhalten. Solange sie diese Hilfe aber erhalten, sind sie eben nicht tot. (88)

Siehe: Sterben auf der Intensivstation

Die medizinische Behandlung bietet also offenkundig nur ein mangelhaftes Substitut der integrierenden Leistung des Gehirns, sie kann den Zusammenbruch des menschlichen Organismus nicht wirklich aufhalten, sondern nur verlangsamen. Aber auch das ist keine plausible Rechtfertigung für eine kategorielle Unterscheidung zwischen der Rolle des Gehirns und der anderen Organe, denn zum einen wachsen in den letzten Jahren die intensivmedizinischen Möglichkeiten, den Zusammenbruch Hirntoter zu verhindern, zum anderen gibt es auch zahlreiche andere Lebenszustände, die mit einer ähnlich geringen Lebenserwartung verbunden sind, ohne dass diese Menschen tot wären. (88)

Welche "zahlreiche andere Lebenszustände" sind denn das? In der Gesamtschau des medizinischen Zustandes gibt es zum Hirntod nichts vergleichbares.

Es liegt deshalb nahe, die These, daß ein hirntoter Mensch tot sein könne, obwohl sein Körper noch lebt, für sinnvoll und bedenkenswert zu halten. Doch dieser Eindruck trügt, denn die ihm zugrunde liegende Unterscheidung zwischen dem Leben eines Menschen und dem seines Körpers ist, trotz all ihrer Vertrautheit, letztlich obskur. (92)

Siehe: intermediäres Leben und Supravitalität

Diese Thematik scheint unmittelbar auf das Gebiet des sogenannten 'Leib-Seele-Problem' zu führen, also zu der Frage, ob ein seelisches als ein körperliches Geschehen verstanden werden kann oder nicht. (92)
Ich glaube nun, daß viele der mit der Hirntod-Debatte verbundenen Probleme verständlich werden, wenn man annimmt, daß unser moderner Todesbegriff immer noch in der Tradition des Seelenbegriffs steht. Der Tod, so meine Hypothese, ist auch für uns noch der Verlust dessen, was uns zu lebenden, wie auch denkenden, fühlenden und handelnden Wesen macht. (159)
Unser Todesbegriff ist historisch kontaminiert durch die im Seelenbegriff angelegte Spannung zwischen biologischem Leben und Seelenleben. (161)

Leib und Seele gehören in den Bereich der Phiolosophie und Theologie, nicht in den Bereich der Medizin. Daher kann die Medizin damit nicht das Hirntodkonzept untermauern. Körper und Geist gehören hingegen in den Bereich der Medizin.

Wenn der Tod für uns nicht eigentlich das Ende des Lebens, sondern der Verlust der Seele ist, dann richtet sie sich auf das falsche Ziel. (160)

Nach katholischer Lehre trennt sich beim Tod die Seele vom Leib.

Der amerikanische Philosoph Daniel Dennet hat in den letzten dreißig Jahren in einer Reihe von Büchern und Artikeln eine philosophische Theorie der menschlichen Psyche entwickelt, die großen Einfluß auf die Entwicklung der modernen Philosophie des Geistes hatte. (164)

Stoeckers Buch erschien erstmals 1999. Damit reichen die genannten 30 Jahre bis 1969 zurück. Das Hirntodkonzept wurde jedoch zuvor entwickelt. Daher können die Bücher von Daniel Dennet keinen Einfluß auf das Hirntodkonzept genommen haben.

Das führt zu dem zweiten Grund dafür, daß es wichtig ist, sich vor Augen zu führen, wie absurd es ist anzunehmen, daß ein Mensch mit dem Ende seiner metaphysischen Personalität tot sei. Es liegt in der Verlockung, diese These hinterrücks doch noch hoffähig zu machen, indem man die Personalitätsstandards nur weit genug absenkt. (168)

1987 gestand Hans Jonas ein, dass sich seine Befürchtungen um Aufweichung des Hirntodkonzeptes unbegründet sind. 40 Jahre nach der Harvard-Erklärung malt Stoecker neue Schreckensbilder an die Wand. - Der im Text nachfolgend genannte Tristam Engelhardt, mag er auch noch Mitstreiter haben, sind einzelne Stimmen, aber keine ernstzunehmende Gruppe, die etwas bewegen könnte. Siehe: Nullsummenzustand

So wenig ein Löwe notwendigerweise tot ist, wenn er die Zähne und Klauen verliert, so wenig ist es auch ein Mensch, der das Pech hatte, daß ihm seine Gaben des Prometheus abhanden gekommen sind. (170)
Die Vorstellung vom Tod als einem bewußtlosen, schwarzen Nichts, auf das wir in unserem Leben unweigerlich zusteuern, hat viel zur Attraktivität der Hirntod-Konzeption beigetragen. Denn wenn das Gehirn abgestorben ist, dann kann es auch nicht mehr Träger von Denken, Fühlen, Wahrnehmen sein. (171)
In seltsamen Kontrast dazu steht allerdings, daß ein Bewußtseinsverlust analytisch weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung dafür ist, tot zu sein. (171f)
Diesen Vorteilen der Gleichsetzung von moralischer Personalität und der Fähigkeit zu Freude und Leid steht aber ein letztlich unüberwindlicher Nachteil gegenüber. Eine Ethik, die einen Menschen allein aufgrund dieser Fähigkeiten berücksichtigt, kann abermals nicht zufriedenstellend erklären, warum gerade diejenige Handlungsweise verboten ist, wovor die moralische Personalität sicher schützen sollte, nämlich die willkürliche Vernichtung der Person. (225)

Siehe: Nullsummenzustand

Denn wenn die vernunftbegabte Natur etwa ist, das alle Menschen teilen, dann haben auch tote Menschen eine vernünftige Natur. (170)

Nach der Definition, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, kann der Begriff "Mensch" nur für Lebende angewendet werden. Tote sind Leichname, aber keine Menschen. Es ist zwar ein menschlicher Leichnam, aber kein Mensch mehr.

Dem könnte man entgegenhalten, daß diese Redeweise im Grunde unberechtigt sei, daß es vielmehr, weil der Tod das Ende des Menschen sei, gar keine toten Menschen gebe. Zunächst ist das allerdings ein absolutes Dissens zum üblichen Sprachgebrauch. Allzu selbstverständlich sagen wir etwas wie: 'Er hat beim Tod seines Großvaters das erste Mal einen toten Menschen gesehen.' (170)

Im Süden Deutschland leben sagt man auch, "Ich fahre nach Hamburg hoch", weil Hamburg im Norden liegt und damit auf den Landkarten oben liegt, dabei fahren wir tendenziell abwärts. Noch deutlicher wird es bei der Aussage, "Der Rhein fließt von Basel zur Nordsee hoch", wobei Wasser nur abwärts fließt. Wenn unser üblicher Sprachgebrauch falsch ist, ist es unsinnig, davon sachlich korrekte Aussagen abzuleiten.

Aus dem aus relativistischer Sicht toten Freund wir also wieder ein zweifellos lebender, das aber ist mit der Endgültigkeit des Todes nicht vereinbar. Kurz, weil sich die medizinische Umwelt ändern kann, ist es nicht ausgeschlossen, dass ein relativistisch verstandener Tod die Endgültigkeitsbedingung verletzt. (174)
So wie die Menschen vor tausend Jahren nichts von der heutigen Intensivmedizin ahnen konnten, so können wir nicht wissen, ob nicht die Medizin in zehn, hundert oder tausend Jahren in der Lage sein werden, einen Menschen mit vollständig zerstörtem Körper wieder ins Bewußtsein zurückzuholen. Also wissen wir nicht, ob der Bewußtseinsverlust unter allen denkbaren Umständen Bestand haben würde. (175)

Tod ist immer endgültig oder es ist kein Tod. Dann sollte dieser Zustand auch nicht mit "Tod" (z.B. "klinisch tot") bezeichnet werden. Dieses Problem gab es bereits Ende des 18. Jh. mit den ersten erfolgreichen Reanimationen. Heute besitzt die Medizin keine Möglichkeit, Hirntote wieder ins Leben zurückzuholen. Wenn sich dies in hunderten oder tausenden von Jahren ändert, muss der Tod neu definiert werden. Noch ist aber die Medizin nicht so weit und es steht für die nächsten Jahrzehnte nicht in Aussicht, dass sich daran etwas ändert. Daher können Hirntote sehr wohl als Tote bezeichnet werden, da ihr Zustand irreversibel ist. Zudem siehe: Nullsummenzustand

Das erste und von Green/Wikler hauptsächlich diskutierte Argument basiert auf der, an Locke angelehnten Prämisse, daß eine notwendige Bedingung für die diachrone personale Identität im Bestehen psychischer Kontinuität liegt. Zusammen mit der Prämisse, daß es keine psychische Kontinuität zwischen dem hirntoten und dem Menschen, der den Hirntod erlitten hat, gibt - also der Annahme, daß der Hirntod jeder psychischen Kontinuität ein Ende setzt -, folgt daraus daß der Hirntote nicht mit dem Menschen, dessen Gehirn abgestorben ist, identisch ist. Da dieser Mensch nun aber auch mit niemandem sonst identisch ist, ist er mit überhaupt niemandem identisch, sprich: er existiert nicht mehr, und ist also, unter der Zusatzprämisse daß ein Mensch, der nicht mehr existiert, tot ist, nicht nur, wie Lukrez es ausgedrückt hat, nicht mehr weit vom Totsein entfernt, sondern er ist dann tot. (178)

Auch als Tote haben Hirntote eine körperliche Identität: Wenn bei einer Strafverfolgung festgestellt wird, dass bei der Spurensuche Gewebeproben gefunden wurden, die mit dem Gewebe des Hirntoten genetisch identisch sind (genetischer Fingerabdruck), kann damit der Beweis erbracht werden, dass der Hirntote zumindest am Tatort war und möglicherweise der Täter ist. Daran wird deutlich, dass weder Hirntote noch Tote mit dem Tod ihre körperliche Identität verloren haben.

Der Mensch ist jetzt zwar nicht mehr in der Lage, von seinen Überlegungen, Ängsten und Phantasien zu erzählen, Aber das, so Shewmon, ist kein Grund, für die Annahme, daß er plötzlich keine solche Bewußtseinserlebnisse mehr hat. (...) Viel näher liegt die Annahme, daß er nach wie vor bei Bewußtsein ist und daß er sich nur in einer gräßlichen Hi-Tech-Variante des Lebendigbegrabenseins befindet. (192)

Ein solcher Zustand erfordert zumindest eine Minderdurchblutung des Gehirns. Außerdem wäre bei diesen Patienten ein EEG abzuleiten, so wie man sogar bei bewusstlosen Patienten ein EEG ableiten kann, denn Besusststein ist immer mit einem ableitbaren EEG verbunden.

Vor allem hat sich aber erneut der Verdacht bestätigt, wie verführerisch die alte Idee ist, daß es so etwas gibt im Menschen wie einen Seelenkern. Denn nichts anderes steckt letztlich hinter Shewmons Argument. Wenn man zeigen kann, daß mit dem Gehirn auch die Seele den Körper verläßt, dann ist bewiese, daß ein hirntoter Mensch keine Seele mehr hat. Doch die Idee ist falsch - nicht weil mehr zur Seele gehört als das Gehirn, sondern weil es die Seele als Trägerin all dessen, womit die Tradition sie versehen hat, überhaupt nicht gibt. (203)

Diese Worte erinnern an die Geschichte, die über Albert Einstein bei der Darlegung der Relativitätstheorie erzählt wird: Als Albert Einstein vor Studenten seine Relativitätstheorie darlegte, soll ein Student aufgestanden sein und gerufen haben: "Wir sind hier doch nicht in der Kirche. Ich glaube nur an das, was ich sehe." Albert Einstein soll ihn angelächelt und dann gesagt haben: "Dann kommen Sie doch bitte nach vorne und legen uns Ihren Verstand auf den Tisch."

Vielleicht ist ein hirntoter Mensch aus moralphilosophischer Sicht schon tot, selbst wenn er biologisch noch am Leben ist. Keine Analyse des Todesbegriffs ist befriedigend, die nicht darauf eingeht, daß wir dem Tod eine so große ethische Bedeutung zumessen. Die Frage ist nur, auf welche Weise diese Bedeutung in die Analyse einfließen sollte. (201)

Die Notwendigkeit der Organe für die Organtransplantation ist keine Grundlage dafür, den Tod entsprechend zu definieren. Das kommt in § 5 Abs. 2 TPG deutlich zum Ausdruck: "Die an den Untersuchungen nach Absatz 1 beteiligten Ärzte dürfen weder an der Entnahme noch an der Übertragung der Organe oder Gewebe des Spenders beteiligt sein." D.h. die Feststellung des Hirntodes ist völlig losgelöst von der Entnahme und der Übertragung der Organe entkoppelt.

Ziel dieser Diskussion ist es zu untersuchen, inwieweit der klassische Utilitarismus eine tragfähige Grundlage für das Tötungsverbot bietet und so die Möglichkeit eröffnet, in der Fähigkeit zu Freude und Leid die Basis moralischer Personalität zu sehen. (229)

Utilitarismus darf nie der Grund dafür sein, einen noch Lebenden als Toten anzusehen.

Wäre Schliemann 1869 getötet worden, also ein Jahr vor seiner Entdeckung Trojas, dann wären zwar seine bis dahin gehegten archäologischen Ambitionen in einem anderen Licht erschienen, aber der eigentliche Schaden, möchte man sagen, der ihm entstanden wäre, liegt nicht darin, ein dilettierender Kauz gewesen zu sein, sondern darin, daß es ihm nicht vergönnt gewesen wäre, Toja zu entdecken. (305)
Auch der Tod eines Menschen kann in diesem Sinne ein Schaden für die Welt sein, eine ungerechte Verschwendung eines Talents, eine 'Schande' o.ä. John Keats´ Tod mit 24 Jahren war ein viel größerer Schaden für die Welt als Leo Tostois mit 82, und zwar nicht nur, weil von Keats vermutlich weit mehr Literatur zu erwarten gewesen wäre als von Tolstoi, sondern weil es eine Schande, eine Ungerechtigkeit war, eine Verletzung der Harmonie der Welt, daß Keats schon so jung gestorben ist. (308)

Kein Hirntoter ist aus sich heraus in der Lage, irgend etwas Sinnvolles zu tun, er kann noch nicht einmal einen Gedanken fassen, eine Idee entwickeln oder gar die Lösung zu einem Problem finden.

Einen Menschen zu töten, der noch viel im Leben vorhat, schadet diesem Menschen (ebenso wie es einem Menschen schadet, den man au feiner Reise kurz vor seinem Ziel abfängt), weil man damit das Leben als ganzes (wie die Reise als ganzes) zu einem mißglückten Fragment gebliebenen Gesamtereignis macht ... (313)

Hirntote haben nur noch intermediäres Leben vor sich.

Das ist eine radikale, aber wir mir scheint unvermeidliche Konklusion aus den Überlegungen dieses und des fünften Kapitels. Was für sie spricht, ist, daß sie ersten zugleich eine Erklärung erlaubt, wieso die ethische Grundannahme trotz ihrer Falschheit so weit verbreitet ist und nur selten in Frage gestellt wird, und daß sie zweitens einen Ausweg aus dem Dilemma bietet, in das die Kritik an der Hirntod-Konzeption die Ethik der Transplantationsmedizin gebracht hat. (331)

Die HTD wird nicht zum Zweck der TX durchgeführt, sondern zur Klärung der Frage, ob noch Koma oder bereits Hirntod vorliegt. Der festgestellte Hirntod ist nur eine Voraussetzung für die TX.

Das liegt daran, daß erstens das Sterben bis vor einigen Jahrzehnten in aller Regel tatsächlich so ablief, daß die Menschen innerhalb einer kurzen Zeitspanne die Reihe ethisch bedeutsamer Verluste durchliefen, und daß es zudem zweitens in dieser Sterbephase keinen signifikanten Handlungsbedarf gab, der eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Verlusten erforderlich gemacht hätte. (332)

Bruno Haid, der Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, wandte sich mit der Frage an Papst Pius XII., ob man schwer hirngeschädigte, bewusstlose Patienten bis zum irreversiblen Herzstillstand weiterbehandeln muss, auch wenn man weiß, dass es für sie keine Besserung gibt und sie binnen Stunden und Tage unvermeidbar den Herzstillstand erleiden. Papst Pius XII. antwortete 1957(!), dass man die Therapie beenden darf, wenn deutlich ist, dass dieser Zustand irreversibel ist und der Herzstillstand unvermeidbar ist.
Es ist bei der Anfrage von Bruno Haid keine Begründung der Anfrage bekannt, aber man darf davon ausgehen, dass dies im Zusammenhang der Reanimation erfolgte, denn die Überschrift der Antwort bezieht sich auf die "Réanimation". Darüber hinaus - wie 1968 von der Ad-Hoc-Kommission benannt und noch heute auf der Intensivstation die Situation - sind Plätze auf den Intensivstationen rar. Diese Plätze will man nicht mit Hirntoten füllen, bei denen keine Besserung, aber der Herzstillstand binnen Stunden oder Tagen eintreten wird. Es gibt somit sehr wohl Gründe, Hirntote nicht auf der Intensivstation zu haben, was die Unterscheidung gegenüber den Komapatienten notwendig macht.

Da sich die ethische Grundannahme über den Tod nur rechtfertigen läßt, wenn man sie auf den normalen Tod bezieht, der alle Verluste umfaßt, und da die Sterbeprozesse, die die Hirntod-Debatte initiiert haben, gerade keine normalen Tote sind, läßt sich die ethische Grundannahme über den Tod nicht auf sie anwenden. (333)

Warum darf man bei neuen Situationen (seit den 1950-er Jahren: Hirntod) und neuen Erkenntnissen der Neurologie den Tod nicht neu definieren?

Die Frage, ob mit dem Tod des Gehirns oder bereits mit dem Absterben eines Teils des Gehirns oder erst mit dem dauerhaften Kreislauf-Stillstand der plötzliche Umschwung in unseren moralischen Bindungen zu diesem Menschen eintritt, ist falsch gestellt. Es gibt eben diesen plötzlichen Umschwung nicht, sondern nur die Reihe mehr oder minder rasch aufeinanderfolgender gravierender Änderungen. (333)

Wenn die Medizin durch die künstliche Beatmung einen neuen Zustand eines Menschen vorliegen hat, darf sie sehr wohl fragen, ob das noch ein Lebender oder bereits ein Toter ist. Schließlich ist es Aufgabe der Ärzte, den Tod eines Menschen festzustellen. Siehe: Pius XII.

Die wichtigste Konsequenz der Abkehr von der ethischen Grundannahme über den Tod liegt in der Entkoppelung der beiden Themen 'Tod' und 'Transplantation'. (334)

Warum verknüpft dann der Autor selbst Hirntod so eng mit Organspende?

Der Tod des Menschen ist ein Prozeß, der damit endet, daß dieser Mensch seine arttypische Zusammensetzung aus Körperzellen verloren hat. (334f)

Sterben ist ein Prozess, Tod ist eine Definition, ein Schnitt in diesem Prozess. - Nach dieser Todesdefinition leben die Leichen der Kryokonservierung.

Jede Organentnahme nimmt einem Lebenwesen sein Leben und ist somit ein Verstoß gegen die Ehrfurcht vor dem Leben. (335)
Die endgültige Bewußtlosigkeit hirntoter (wie auch anderer schwerst hirnverletzter) Menschen sprach dabei für eine freizügige Organentnahme auch auf Kosten des anschließenden Todes des Spenders. (335)
Der Wert von Organentnahmen und dem daraus resultierenden Lebensverlust hängt aus dieser Sicht stark davon ab, wie sich dieses Daseinsende des Betroffenen einfügt, ob es also beispielsweise seinen schon zuvor gehegten Neigungen und Überzeugungen entspricht oder nicht, und ob es unter würdigen Umständen geschieht, d.h. in dem Bewußtsein, einen Patienten am Ende einer menschlichen Biographie vor sich zu haben und kein geschichtsloses medizinisches Ersatzteillager. (336)

Siehe: Diffammierung

Daß es erfolgversprechend ist, den direkten ethischen Weg an Stelle der Hirntod-Debatte zu beschreiben, hat die Disziplin vorgemacht, die, wie oben beschrieben, den ersten Anstoß zur Hirntod-Debatte gegeben hatte, die Ethik der Intensivmedizin. (336)

Erfolgversprechender wäre, sachlich korrekte und umfassende Aufklärung zu betreiben.

Es steht zu hoffen, dass die medizinische Ethik der Organverpflanzung diesem Erfolg nacheifern wird. Das Ziell dieses Buches war es nur zu zeigen, daß ihr nicht anderes übrig bleibt. (337)

Damit endet das Buch. - Der letzte Satz des vorausgehenden Absatzes lautet: "Der Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen erstreckt sich heute längst nicht mehr zwangsläufig bis zum Tod oder Hirntod, statt dessen hat sich die Einsicht durchgesetzt, auf die ja schon Papst Pius XII. hingewiesen hat (vgl oben Fn. 23 des ersten Kapitels), daß die Pflicht zur Lebensrettung undn Lebensbewahrung wie jede medizinische Pflicht an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die auch schon vor dem Tod wegfallen können.[Anm. 2]" (336f) Damit spielt Stoecker auf das Therapieende nach Patientenverfügung (PV) an. Doch hierbei ist eindeutig mehr Leben vorhanden als bei Hirntod. Siehe: PVHT

Ralf Stoecker veröffentlichte das Buch erstmals 1999 und in der Studienausgabe 2010. In beiden Ausgaben benutzte er die alte Rechtschreibregel (z.B. "daß" statt "dass"). Dabei gab es 1996 eine Rechtschreibreform. So traditionell, wie sich Ralf Stoecker bei der Rechtschreibung zeigt, so traditionell zeigt er sich auch im Todesverständnis. Ohne den Sachverhalt, über den er 340 Seiten (ohne Literaturverweise) schreibt, tiefergehend zu kennen, tritt er in die Fußstapfen von Hans Jonas, der sich vor allem von dem Begriff irreversibles Koma irreleiten ließ. Ralf Stoecker wie auch Hans Jonas muss jedoch bescheinigt werden, dass sie den pahtophysiologischen Zustand des Hirntodes nicht umfassend und nicht fehlerfrei verstanden haben und daher falsche anthropologische Schlussfolgerungen ziehen.

Belesen zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Wissen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht wird.

Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland (2009)

2009 veröffentlichte Ralf Stoecker den Artikel "Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland".[5]

Der Verweis auf die ‚Lebendigkeit‘ legt allerdings eine andere Reaktion der Hirntodkritiker viel näher, nämlich zu bezweifeln, dass ein Mensch mit dem Verlust des personalen Lebens, sprich: aller mentalen Eigenschaften, notwendigerweise schon tot ist. (46)

Selbst im Großhirntod ist mit dem Hirntod mehr ausgefallen, als die "mentalen Eigenschaften". Nicht mit in den Blick genommen sind mit den "mentalen Eigenschaften" die Aufgaben und Funktionen des Hirnstamms. Diese sind beim Gesamthirntod auch erloschen.

Was dagegen spricht ist zum einen die Feststellung, dass auch manche nicht hirntote Menschen keine mentalen Eigenschaften haben (unwiderruflich bewusstlose Wachkomapatienten, anenzephale Säuglinge), so dass man diese ebenfalls als tot ansehen müsste, was absurd wäre. (46)

Bei Wachkomapatienten sind nicht alle Hirnstammreflexe erloschen, bei Hirntoten sehr wohl. - Anenzephalie hat unterschiedliche Ausprägungen. Nur ein Neugeborenes, das weder Großhirn, Kleinhirn noch Hirnstamm hat, entspricht dem pathophysiologischen Zustand von Hirntoten. Da diesem anenzephalen Neugeborenen sämtliche Hirnstammreflexe - darunter der lebenswichtige Atemreflex - fehlen, wird es als Totgeburt entbunden.

Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ für die Aufrechterhaltung des menschlichen biologischen Lebens, aber auch das Gehirn ist nicht unverzichtbar. (46)

Das Gehirn ist insofern verzichtbar, als heutige Intensivmedizin für einen begrenzten Zeitraum die ausgefallene Homöostase ersetzen kann. Doch das Wesen des Menschen besteht nicht in einem funktionierenden Blutkreislauf, sondern in der Wahrnehmung seiner Selbst und seiner Umwelt sowie der Interatktion mit diesen. Dies kann die Medizin nicht ersetzen.

Hirntote haben diese homöostatische Fertigkeit in viel geringerem Maße als ein gesunder Mensch, sie sind deshalb erheblich auf die Unterstützung der Intensivmedizin angewiesen, damit ihr Organismus nicht „entgleist“, zugleich haben sie aber noch eine ganze Reihe dieser Fähigkeiten, sonst wären die medizinischen Unterstützungsmaßnahmen, die sich nicht wesentlich von der intensivmedizinischen Betreuung nicht hirntoter Patienten unterscheiden, gar nicht möglich. Herztote Menschen haben hingegen alle homöostatischen Fähigkeiten verloren (selbst wenn noch eine Zeit lang in einzelnen Zellen ein Kreislauf erhalten bleibt). (47)

Der Aufwand, der für Hirntote betrieben werden muss, damit sie einen stabilen Blutkreislauf haben, ist enorm. Dagegen ist es mit einer ECMO sehr einfach, bei einem frischen Herztoten die Blutkreislauf weiterhin aufrecht zu erhalten.

Der Herztote, könnte man sagen, lebt biologisch gesehen gar nicht mehr, der Hirntote nur noch ein bisschen, wir dagegen voll und ganz. (47)

Herztote haben einen über Tagen erlöschenden Anteil intramediären Lebens. Hirntote haben einen maximalen Anteil intermediären Lebens, das über Tage und Wochen, bei jungen Hirntoten auch über wenige Monate aufrecht erhalten werden kann.

Aber auch wer nur ein bisschen lebt, lebt. (47)

Dann leben Herztote mit intramediärem Leben? Siehe: Sterbeprozess

Bleibt uns also nichts anderes übrig als am Ende doch noch in den sauren Apfel zu beißen und die Transplantationsmedizin als eine moralisch unhaltbare Opferung Sterbender zugunsten schwerkranker Dritter abzulehnen? (48)

Siehe: Diffamierung

Es werden längst nicht so viele Organe gespendet wie benötigt werden, und es ist auch nicht absehbar, dass sich diese Schere tendenziell schließen wird. Deshalb wird schon lange nach Abhilemaßnahmen gesucht. Eine dieser Möglichkeiten besteht nun aber darin, den Kreis der potentiellen Spenderinnen und Spender auszuweiten. In der Hirntoddebatte war im Zusammenhang mit so genannten "Großhirntod-Konzeptionen" gelegentlich geargwöhnt worden, dass man auch Wachkomapatienten als Spender nutzen wollte. Tatsächlich hat sich die Transplantationsmedizin aber einer anderen Spendergruppe zugewandt, Patienten mit Herzstillstand. (49)

In Deutschland ist keine Bemühung zu erkennen, von Gesamthirntod abzuweichen. In Deutschland sind die BÄK und andere medizinische Gesellschaften gegen die Einführung der DCD. Daher sind diese beiden Themen für Deutschland reine Panikmache.

Für aussichtslos halte ich alle Versuche, doch noch irgendwie festzustellen, dass die hirntoten Spender und die Spender mit Herzstillstand in Wirklichkeit tot sind. In meinen Augen hat Truog Recht, dass dies nur mit massiver Selbsttäuschung gelingen kann. (56)

Mit oberflächlichem Wissen über Hirntod ist wohl dieser von Truog vorgeschlagene Weg zu gehen. Sinnvoller ist jedoch, dass zumindest unter den gebildeten Menschen die Bemühung vorherrschen sollte, den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthropologische Tragweite besser zu verstehen.

Will man trotzdem daran festhalten, dass Transplantationen nützlich und sinnvoll sind, dann liegt es zunächst nahe, sich in das andere Horn des Dilemmas zu stürzen und beispielsweise mit Truog zu akzeptieren, dass man unter Umständen Organe entnehmen darf, auch wenn die Spender noch nicht tot sind, also die Dead Donor Rule aufzugeben. Das Problem für diesen Vorschlag liegt allerdings in der Gefahr, dass damit Tür und Tor für andere Formen der fremdnützigen Tötung geöffnet werden, z.B. von dauerhaft komatösen Menschen, hinsichtlich derer ebenfalls die Frage gestellt werden könnte, ob es nicht besser wäre, mit ihren Organen einen oder mehrere kranke Mitmenschen zu retten. (56)

Aus diesem Grund sollte man den Hirntod besser verstehen, um dann selbst zu erkennen, dass Hirntote Tote sind.

Wenn man sich aber auf keines der Hörner eines Dilemmas einlassen will, dann sollte man sich auch besser gar nicht erst hinein begeben. Diese Strategie scheint mir die aussichtsreichste zu sein. (56)

Damit wären Hirntote bis zum Herzstillstand intensivmedizinisch zu versorgen.

Diese moralische Grundannahme über den Tod konnte sich deshalb so lange halten, erstens weil die Menschen in der Regel so gestorben sind, dass sie innerhalb einer kurzen Frist alle diese Verluste durchlaufen haben, und zweitens weil es innerhalb dieser Spanne keinen Handlungsbedarf gab. (58)

Dies gilt bis Ende des 18. Jh. Seit den ersten erfolgreichen Reanimationen ist die Trennlinie zwischen Leben und Tod nicht mehr so klar.

.. man konnte es sich leicht erlauben, den Menschen in Ruhe zu Ende sterben zu lassen (und zudem die Scheintod-Gefahr zu bannen), denn es gab keinen Grund zur Eile. (58)

Bei Hirntoten stand zunächst die Rettung des Lebens und Wiederherstellung der Gesundheit im Fokus, als man mit den Maßnahmen der Intensivmedizin begann. Dies rettet auch vielen Menschen das Leben, aber bei einigen wenigen ist jedoch die Grunderkrankung so schwerwiegend, dass schließlich ein Hirntoter auf der Intensivstation liegt. Was ist nun mit ihm zu tun?

Wie steht es beispielsweise mit unseren Menschenrechten? Haben wir sie nur so lange wir leben, und wenn ja, warum? (59)

Mit dem Tod verliert der Mensch seine Menschenrechte, weil er mit Eintritt des Todes kein Mensch mehr ist, sondern ein Leichnam. Es ist zwar ein menschlicher Leichnam, aber eben ein Leichnam.

Kurz, ich plädiere dafür, die Hirntod-Debatte wieder aufzunehmen, allerdings in der Erwartung, dass wir dabei feststellen werden, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt zu entscheiden, ob hirntote Menschen oder Menschen unmittelbar nach dem Herzstillstand tot sind oder noch leben – auch wenn vieles für letztere Antwort spricht –, sondern dass es darauf ankommt, wie wir mit ihnen umgehen dürfen und sollten, gegeben, dass wir uns nicht mehr auf die moralische Grundannahme über den Tod verlassen dürfen. (59)

Ich plädiere dafür, dass wir uns den pathophysiologischen Zustand Hirntod und seine anthropologische Tragweite aneignen, insbesondere die Menschen, die über Hirntod publizieren.

Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht (2003)

2003 veröffentlichte Ralf Stoecker den Artikel "Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht".[6] Darin heißt es:

Wann ist der Mensch tot? Ende der sechziger Jahre gelangten medizinische Fachverbände in den USA, in der Schweiz, in Deutschland und in anderen Ländern zu dem Ergebnis, daß ein Mensch jedenfalls dann tot ist, wenn sein Gehirn insgesamt abgestorben ist. Das ist die Hirntod-Konzeption des Todes, die seitdem die theoretische Basis der medizinischen Praxis in weiten Teilen der Welt bildet. (49)

Diese Aussage ist dem Wort nach richtig, doch sie übersieht die vorausgegangenen medizinischen Erkenntnisse der 1950-er und 1960-er Jahre.

Wenn wir gewöhnlich vom 'Tod' eines Menschen reden, dann reden wir nicht über eine Zeit, in der er schon tot ist, sondern über eine, in der er noch lebt. Wir sagen etwa, daß ein Tod qualvoll und lang gewesen sei, oder: es sei sein Tod gewesen, nach dem Herzinfarkt wieder mit dem Rauchen anzufangen. Das heißt, wir verwenden das Substantiv 'Tod' für dasjenige, was dem Leben ein Ende setzt. Das aber ist selbst noch ein Teil des Lebens, während es in der Debatte um die Frage geht, wann wiederum dieses Ende selbst zu Ende ist, wann also, wenn man so will, der Tod aufhört und das Totsein beginnt. (51)
Diese zweite begriffliche Vorbemerkung, daß es genau genommen um das Todsein und nicht den Tod geht, ist deshalb wichtig, weil in der Debatte gelegentlich darauf hingewiesen wird, daß der Tod ein zeitlich ausgedehnter Prozeß sei, um daraus dann den Schluß zu ziehen, also ließe sich nicht genau bestimmen, wann ein Mensch tot ist. Die Prämisse stimmt, der Tod ist ein Prozeß, aber die Konklusion folgt daraus nicht, denn tot ist der Mensch erst dann, wen er diesen Prozeß hinter sich hat, und inwiefern sich dieser Zeitpunkt genau lokalisieren läßt, hängt nicht von der Dauer des Todes-Prozesses ab, sondern davon, wie abrupt er endet. (51)

Sterben ist ein Prozess, Tod ist eine Definition. Siehe: Sterbeprozess

Was immer die Medizin an Wiederbelebungsmaßnahmen erfinden wird, so ist es doch undenkbar, daß sie die Toten wieder auferwecken wird, allenfalls kann sie noch mehr Zustände als Scheintod entlarven als heute bekannt sind. (51)

Siehe: Todesverständnis

Es gibt traditionell eine Vielzahl von Vorschlägen für Merkmale, die ein Lebewesen von unbelebten Dingen auszeichnen: Stoffwechsel z.B., Wachstum und Reproduktion, Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit. Aber nicht alles, was zur Unterscheidung zwischen Lebewesen und dem Rest der Welt tauft, ist auch geeignet, zwischen lebenden und toten Lebewesen zu unterscheiden. Das ist vielleicht am deutlichsten bei der Fortpflanzungsfähigkeit. Auch wenn es stimmen mag, daß sie ein Kennzeichen für Lebewesen ist, so ist sie sicher untauglich, das Leben des einzelnen Wesens zu begrenzen. Man ist eben noch längst nicht tot, wenn man nicht mehr zeugungsfähig ist. (52)

Siehe: Todesdefinition, Todesverständnis

Daran schließt sich unmittelbar als viertes Problem die Frage an, wie sich genau der Verlust der Regulationsfähigkeiten und der des Lebens zueinander verhalten. Ist das Wesen schon tot, wenn es irgendeine seiner Regulationsfähigkeit verloren hat? Das kann nicht sein, wie das Beispiel der künstlichen Beatmung zeigt. Oder ist es erst tot, wenn es alle diese Fähigkeiten verloren hat? Das kann es auch nicht sein, denn gerade auf zellulärer Ebene laufen diese Prozesse auch bei unzweifelhaft toten Lebewesen noch eine ganze Zeit lang weiter. Bei welchem Verlust ist das Wesen dann aber tot? (53)

Siehe: Todesverständnis

Das scheint mir die einleuchtendste Reaktion zu sein, aber sie hat die Konsequenz, daß sie eine ander, neue Antwort erforderlich macht, was es dann heißt, daß ein Lebewesen am Leben ist. Man kann dann nicht mehr sagen, daß Leben in der Fähigkeit zur Aufrechterhaltung des Systems besteht, unabhängig davon, ob es intern oder extern stabilisiert wird. Dann aber gibt es keinen guten Grund, hirntote Menschen, deren Organismus über Tage hinweg weitgehend intakt gehalten werden kann, bis hin zum Extremfall einer monatelangen Schwangerschaft, als nicht mehr am Leben zu erachten. (54)

Siehe: Todesverständnis, intermediäres Leben, schwangere Hirntote

Deshalb reagieren Verfechter der Hirntod-Konzeption gewöhnlich anders auf die genannten Probleme: erstens indem sie zwischen zentralen undn peripheren Steuerungsmechanismene unterscheiden und das Leben alleien an die Existenz der zentralen Mechanismen knüpfen, und zweitens indem sie davon ausgehen, daß ein Mensch erst dann tot ist, wenn er alle diese vitalen Fähigkeiten unwiderruflich verloren hat. Unter diesen Umständen kann man dann die Aufrechterhaltung einiger dieser Fähigkeiten, z.B. durch die künstliche Beatmung eines zweifellos lebenden Intensivpatienten, als Hilfe zur Selbstregulierung des Organismus betrachten, während eine Substitution aller vitalen Fähigkeiten als externe Erhaltung eines nicht mehr selbstregulierten Organismus gilt, z.B. beim Hirntoten. (54)

Siehe: Todesverständnis

Wichtig ist hier, daß es nicht wirklich auf den Organtod ankommt, also nicht darauf, daß das Gehirn bis in die einzelnen Zellen hinein abgestorben ist sondern allein auf den Ausfall der wesentlichen Funktionen, ja daß es deswegen sogar möglich sein kann, dass das Gehirn noch bestimmte Tätikeiten zeigt, die aber nicht an den vitalen Mechanismen des Körpers beteiltigt sind. (54)

Siehe: intermediäres Leben, Supravitalität

Zweitens kann man den Ausfall der Gehirnfunktionen nicht nur direkt, neurologisch, sondern auch indirekt diagnostizieren, durch eine entsprechende Herztod-Diagnose. Nach einem hinreichend langem Atmungs- und Herzstillstand ist eben sichergestellt, daß auch das Gehirn tot ist. ... Sie ist aber auch wichtig für die Einschätzung einer Patientengruppe, die seit Anfang der neunziger Jahren für die Transplantationsmedizin zunehmend an Bedeutung gewinnt, die sogenannten 'non heartbeating organ donors', also solcher Patienten, denen Transplantate nach einer herztod-Diagnose und nicht nach Hirntod-Feststellung entnommen werden. (55)

Damit läge der Hirntote noch Tage oder Wochen auf der Intensivstation. Siehe 1. Grund der Ad-Hoc-Kommission.
Bei NHBD liegt kein Herztod vor, sondern nur ein vorübergehender Herzstillstand von mind. 2 bis 20 Minuten, je nach Nation. Siehe: DCD

Insgesamt gesehen ist aber die Annahme, dass ein Lebwesen mit dem Verlust seiner homöostatischen Fähigkeiten schon tot ist, nicht einleuchtend, viel näher liegt die Annahme, daß es von da an todgeweiht ist, zumindest dann, wenn dieser Verlust nicht extern, auf einer Intensivstation ausgeglichen wird. Deshalb ist es am Ende sehr fraglich ob sich die These, daß Hirntote tot sind, wirklich auf den biologischen Charakter des Lebens stützen kann. (56)

Siehe: intermediäres Leben, Todesverständnis

Es ist zwar attraktiv, könnte man sagen, ein gemeinsames Merkmal zu finden, das uns alle, vom Gänseblümchen und Pantoffeltierchen bis zum Affen und Menschen, als Lebewesen verein, aber vermutlich haben wir gerade deshalb solche Schwierigkeiten, es auf die extrem unnatürliche Situation in einer Intensivstation anzuwenden, und jedenfalls ist es nicht das, was uns an unserem Leben und dem Leben anderer Menschen interessiert, und folglich auch nicht der Tod, um den es uns gehen sollte. (56)

Siehe: Todesverständnis

Was so suggestiv ist, ist die ganz einfach Überlegung:

1. Prämisse (Ebene 1): Ein Mensch ist tot,wenn er endgültig das Bewußtsein verliert.
2. Prämisse (Ebene 2): Hirntote Menschen haben endgültig das Bewusstsein veroren.
Konklusion: Sie sind tot.
Wie suggestiv diese Überlegung ist, zeigt sich nicht nur bei den Befürwortern der Hirntod-Konzeption, sondern auch auf Seiten ihrer Gegner, nämlich in dem großen Stellenwert, den Zweifel an der zweiten Prämisse in der Debatte einnehmen, also Zweifel daran, ob man nicht ohne funktionnstüchtiges Gehirn möglicherweise doch noch etwas empfinden kann. (57)

Hirntoten ist alle Wahrnehmung für immer erloschen. Siehe: Nullsummenzustand

Daß solche Operationen trotzdem weitgehend unumstritten sind, zeigt, daß wir uns in der Medizin häufig und viel diffizilere und weniger gewisse Erkenntnisse über die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit verlassen, als sie in dem generellen Urteil zum Ausdruck kommen, daß man ohne funktionierendes Gehirn nichts mehr fühlt. Daher vermute ich, daß es vor allem die unterschwellige Gleichsetzung von Leben und Bewußtsein ist, die Gegner des Hirntod-Konzeptes zu solchen generellen Zweifeln motiviert. (58)

Siehe: Bewusstsein, Hirntod, Autolyse

Die entscheidende Frage ist aber ohnehin, ob ein Mensch tatsächlich tot ist, wenn er unwiderbringlich das Bewußtsein verloren hat - während im übrigen niemand bezweifelt, daß er, solange er bei Bewußtsein ist, natürlich noch lebt. (58)
Beide Schwierigkeiten werfen die Frage auf, wie sich der Schluß vom endgültgen Bewußtseinsverlust auf den Tod überhaupt rechtfertigen läßt. Allein die Vorstellung vom Tod als einem dunklen Nichts, das uns allen droht, recht dazu sicher nicht aus. (59)

Siehe: Nullsummenzustand

Nach dieser Antwort, die ursprünglich auf John Locke zurückgeht, gibt es so etwas wie ein mentales Band, eine Abfolge von Erlebnissen, Gefühlen und Gedenken von meinem daligen zu meinem heutigen und weiter zu meinem künftigen Ich. Dieses biiographische Band stellt die Identität her. (59)
Dieses sogenannte 'ontologische' Argument für die Hirntod-Konzeption ist, wie gesagt, eher etwas für Philosophen als für Praktiker, es findet aber seine Entsprechung in einer Reaktion von Angehörigen schwer hirnverletzter Menschen, von der häufig berichtet wird, daß die Angehörigen nämlich einen Unterschied machen zwischen dem eigentlichen und dem erst später eintretenden medizinischen Tod der Patienten. (60)
Diesseits bestimmter religiöser Überzeugungen gibt es keinen Grund zu bezweifeln, daß ein Mensch so lange existiert, wie sein Körper noch nicht zerstört ist, und das tritt gewöhnlich erst einige Zeit nach seinem Tod ein. Es gibt deshalb aus ontologischer Sicht keinen Grund für die Gleichsetzung des Todes mti dem Ausfall des Gehirns oder gar nur eines Teils des Gehirns. Damit komme ich zu dem Schluß, daß es überhaupt keine überzeugende begriffliche Verknüpfung zwischen Leben und Bewußtsein gibt, abgesehen von der selbstverständlichen Feststellung, daß jemand, der bei Bewußtsein ist, natürlich auch lebt. Auf diesem Weg findet sich also keine Antwort auf die Frage, wann ein Mensch tot ist. (61)

Es ist auch sicher, dass kein Toter Bewusstsein hat. - Der Körper eines bei rund -30°C Erfrorenen ist bei anhaltendem Frost selbst nach Jahren und Jahrzehnten nicht zerstört. Die ontologische Sicht ist somit keinesfalls ein Hilfsmittel zur Todesfeststellung.

Tot ist dagegen alles Starre, Kalte, Bleiche - eben Leblose (61)

Siehe: Audrey Mash

Was sich vielmehr an den Problemen zeigt, die die Pfleger damit haben, Hirntote als tot zu behandeln, ist, daß unser Umgang mit anderen Menschen eng damit verwoben ist, wie sie usn erscheinen. Unsere Rücksichtnahme, Sorgfalt, Zuwendung, Empathie - all das ist mit der lebendigen Erscheinung anderer Menschen verbunden. (62)

Siehe: Phänomen-Ebene

... behandeln wie andere Intensiv-Patienten auch, daß sie also beispielsweise mit ihnen reden, die Körperpflege durchführen usw., während sie sie nach der Organentnahme mühelos als Leichen behandeln. (62)

Auch Tote werden gewaschen - eine Form der Körperpflege - und sauber angezogen. Viele Trauernde reden auch mit ihren Verstorbenen, selbst noch nach dem Begräbnis.

Muß man sie weiter intensivmedizinisch behandeln, oder dar man sie weitersterben lassen? Darf man ihnen lebenswichtige Organe entnehmen, oder muß man ihre körperliche Integrität bewahren? (62)

Das Wort "weitersterben" drückt aus, dass Hirntote für den Autor keine Tote sind, da für ihn ihr Sterbeprozess noch nicht beim Tod angekommen ist. - Die Verknüpfung von Hirntod und Organspende gibt es nicht aus der Diskussion um den Tod. Vielmehr ist es so, dass durch die Feststellung des Todes die Organentnahme möglich ist, wenn eine Zustimmung hierfür vorliegt.

Darf man ihnen lebenswichtige Organe entnehmen, oder muß man ihre körperliche Integrität bewahren? Auf diese Fragen erwartet man sich von der Hirntod-Debatte eine Antwort. (62)

Wenn der Hirntod und damit der Tod des Menschen festgestellt ist und eine Zustimmung zur Organentnahme vorliegt, können die Organe entnommen werden.

Mit dem Tod eines Menschen ändert sich schlagartig die moralische Verpflichtungen, die wir ihm gegenüber haben, denn so lange er lebt, hat er wie alle lebenden Menschen einen ganz besonderen Status, er hat Rechte und wir sind zur Rücksichtnahme und unter Umständen auch zur Hilfe verpflichtet. Sobald sein Leben aber zu Ende ist, verliert er diesen Status (abgesehen von einem kleinen Rest, der der Pietät geschuldet ist). (62)

Dieses Verpflichtung der Hilfe gegenüber den Organ-Patienten wird kaum gesehen.

Die begriffliche Diskussion, inwiefern die Hirntod-Konzeption mit unserem Todesbegriff übereinstimmt, muß folglich eine ethische Wende vollziehen und in eine moralphilosophische Diskussion der Grundlagen des besonderen moralischen Status des Menschen übergehen. (63)

Siehe: Todesverständnis

Es ist klar, daß wir einen anderen, einen höheren Anspruch auf moralische Rücksichtnahme haben als eine Fliege oder ein Efeu. Also basiert unser moralischer Status nicht nur darauf, daß wir biologisch am Leben sind. (63)
Dann aber ist es die Anfälligkeit für Schädigung au der unser moralischer Status basiert, und man ist bei deiner weiteren wichtigen Frage im Zusammenhang mit dem Hirntod angelangt, der Frage, ob man Hirntoten noch schaden kann. In vielerlei Hinsicht kann man das zweifellos nicht. Man kann ihnen, wie schon gesagt, kein Leid zu fügen, man kann ihnen aber auch beispielsweise keine Chance für die Zukunft verbauen, denn sie haben keine mehr. (65)
Typtische Beispiele dafür finden sich in dem berühmten Artikel 'Harvesting the Dead' von Willard Gaylin von 1974.[7] Gaylin plädiert dafür, den Hirntod nicht nur als Voraussetzung von Behandlungsabbruch und Organentnahme zu akzeptieren, sondern die Hirntod-Konzeption konsequent zu Ende zu denken und Hirntote auch für andere Zwecke genaus einzusetzen wie Leichen, beispielsweise für Medikamentenversuche, zur Chirurgenausbildung und als Blutbanken. (65)
In anderer Hinsicht kann man Hirntoten aber sicher noch schaden, nämlich indem man sie so behandelt, daß ihre Persönlichkeit insgesamt Schaden nimmt. ... Hirntote auch für andere Zwecke genau so einzusetzen wie Leichen, beispielsweise für Medikamentenversuche, zur Chirurgieausbildung und als Blutbanken. (65)

Personen sind per Definition immer lebende Menschen (siehe: Personenstandsgesetz). Da Hirntote keine Lebende sind, können sie auch keine Person sein und kann damit auch nicht ihre Persönlichkeit schaden nehmen. - Für die o.g. Verwendungszwecke von Leichen muss eine Zustimmung vorliegen. Wenn diese Zustimmung für Hirntote vorliegt, können auch Hirntote für solche Zwecke verwendet werden.

{{Zitat|Der Fehler liegt also nicht darin, daß diese Merkmale ethisch belanglos sind, sondern in dem Versuch, unter ihnen eines auszusuchen, auf dem der moralische Status des Menschen beruht, den er dann mit dem Tod schlagartig verliert. (66)}]

Wie dem aber auch sei, es gibt jedenfalls keinen Grund zu der Annahme, daß man die Persönlichkeit Hirntoter nicht mehr mißachten kann, also haben sie offenkundig noch eine Würde. Eine Koppelung des moralischen Status an die Menschenwürde hat also ebenfalls die Konsequenz, daß auch Hirntote einen moralischen Status haben. (66)

Siehe: Würde der Hirntoten

Es liegt sowohl daran, daß wir biologisch am Leben sind, wie auch an unserer Lebendigkeit, sowohl an unserer Fähigkeit, Freude und Leid zu empfinden, wie an unserer Vernunft und Autonomie, dass man uns besonders behandeln muß. (66)

Siehe: Todesverständnis, Nullsummenzustand

Wenn man diese Annahme, die ethische Grundannahme über den Tod, aber aufgibt, dann kann man zugestehen, daß ein Mensch am Ende seines Lebens eine Vielfalt von Verlusten erleidet, die die Pflichten anderer ihm gegenüber stark verringern, ohne daß man sich aber für einen dieser Verluste als den Abbruch des moralischen Status entscheiden müßte. (66f)
Es gibt keine Schwelle, von der ab der Mensch plötzlich keinen moralischen Status mehr hat, es gibt nur die verschiedenen Verluste, die dazu führen, daß das Verhalten der anderen Menschen ihm gegenüber immer weniger restringiert wird. (67)

Beim Herz-Lungen-Tod setzt zunächst die Atmung aus (z.B. um 10:10 Uhr), dann das Herz (z.B. um 10:15 Uhr). Mit dem irreversiblen Herzstillstand ist der Tod des Menschen eingetreten. Gesichert (Nachweis der Irreversibilität) wird er erst mit der Sichtung der sicheren Todeszeichen, den Totenflecken und der Totenstarre (z.B. um 12:30 Uhr). Dann erst wird der Totenschein unterschrieben. Als Todeszeitpunkt wird 10:15 Uhr eingetragen, dem Zeitpunkt des letzten Herzschlages. Es ist ein Kriterium, an dem wir bis heute den Tod feststellen, es ist sogar das häufigste angewandte Kriterium.

Hirntote Menschen befinden sich noch auf einer etwas früheren Stufe des Sterbens, sie sind anfälliger gegenüber Mißachtung ihrer Würde als in späteren Stadien. (67)
Ich plädiere für eine radikalere, zweite ethische Wende, eine Abkehr von der herkömmlichen Hirntod-Debatte hin zu einer direkten moral-philosophischen Diskussion der verschiedenen medizinischen Handlungsoptionen bei Hirntoten. (67f)

Siehe: Sterbeprozess, Würde der Hirntoten

Es geht nicht darum zu entscheiden, ob hirntote Menschen schon tot sind oder nicht, es geht darum zu klären, was es heißt, Patient mit schweren Hirnschädigungen aber auch andere Patienten am Ende ihres Lebens menschenwürdig zu behandeln angesichts des Zustands, in dem sie sich befinden. (68)

Siehe: schwere Hirnschädigung, Hirntod, Todesverständnis

Und wie die moralphilosophische Untersuchung zeigt, basiert diese Frage zudem auf einer zweifelhaften Prämisse, der ethischen Grundannahme für den Tod, der zufolge ein Mensch mit seinem Tod schlagartig seinen moralischen Status verliert. Viel plausibler ist eine Art ethisches Stufenmodell des Lebensendes, dem zufolge ein Mensch stufenweise die Voraussetzungen dafür einbüßt, von anderen Menschen moralisch oder unmoralisch behandelt werden zu können. (69)

Beim erfolglosen Versuch einer Reanimation gibt es dieses Stufenmodell keinesfalls: Unter Normalbedingungen, darunter ca. 20°C, erfährt ein Erwachsener mit Herzstillstand für ca. 30 Minuten eine Herzdruckmassage und künstliche Beatmung. Es werden ihm auch Medikamente gespritzt, damit das Herz wieder zu schlagen beginnt. Bei Herzkammerflimmern erfährt er für ca. 30 Minuten immer wieder Elektroschocks, um das Herz wieder zu einem normalen Herzschlag anzuregen. Konnte in beiden Fällen - 30 Minuten Herzstillstand bzw. 30 Minuten Herzkammerflimmern - kein normaler Herzschlag erzielt werden, wird jeder weitere Versuch der Reanimation abgebrochen. Der Zeitpunkt des Abbruchs wird als Todeszeitpunkt in den Totenschein eingetragen. Da gibt es keine Abstufung, sondern nur "noch Leben" und "jetzt Tod".
Daran wird der Dualismus zwischen Leben und Tod deutlich, den es schon immer gab.Nur haben sich die Kriterien zur Feststellung des Todes im Laufe der Geschichte gewandelt. Geblieben ist jedoch der Dualismus zwischen Leben und Tod. Daran wird auch deutlich, dass Sterben ein Prozess ist, der Tod jedoch eine Definition. Ebenso ist es auch mit dem Hirntod.

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Anhang

Anmerkungen

  1. Es darf angenommen werden, dass den Medizinern bei diesem Referenten die Zeit zu schade war, weil sie seine Position nicht teilen.
  2. Als Beispiele für viele aus den letzten dreißig Jahren siehe H. G. Berger et al., "Grenzen der Intensivtherapie in der Chirurgie", H. Menzel, "Kriterien für eine Behandlungsabbau", J. Schara, "Was darf die Intensivmedizin? - Überlegungen zum Behandlungsabbruch", P. Schölmerich, "Ärztliches Handeln an den Grenzen des Lebens".

Einzelnachweise

  1. Stephan M. Probst (Hg): Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019, 266f.
  2. http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0022.html Zugriff am 08.08.2019.
  3. Ralf Stoecker: Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende. In: Stephan M. Probst: Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019.
  4. Ralf Stoecker: Der Hirntod: Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation. 2. Auflage. Freiburg 2010.
  5. Ralf Stoecker: Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland. In: D. Preuß, N. Knoepffler, K.-M. Kodalle (Hg.): Körperteile - Körper teilen. Kritisches Jahrbuch der Philosophie. Beiheft 8/2009, 41,52. Nach: https://aerzte-fuer-das-leben.de/pdftexte/stoecker-reanimation-der-hirntod-debatte.pdf Zugriff am 08.08.2019.
  6. Ralf Stoecker: Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht. In: Alberto Bondolfi, Ulrike Kostka, Kurt Seelmann (Hg.): Hirntod und Organspende. Basel 2003, 49-70.
  7. Gaylin: Harvesting the Dead. In: Harper´s Magazine (1974), 23-30.