Ralf Stoecker

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[https://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Stoecker Ralf Stoecker (* 1956) ist ein deutscher Philosoph für Praktische Philosophie, seit 2013 an der Universität Bielefeld. 1990 promovierte er zur Frage "Was sind Ereignisse?". 1999 habilitierte er mit der Arbeit "Der Hirntod. Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation".[1]


Sonstiges

Ralf Stoecker lud Alan Shewmon als Referent zu einem Workshop ein. Von den Medizinern kamen Hartmut Schmidt und Eckhard Nagel, wenn auch nur kurz. Die übrigen Mediziner haben abgesagt.[Anm. 1] Dies bedauerte Ralf Stoecker ("was schade ist"). "Um so erfreuter sind wir, daß aus den Bereichen Philosophie und Recht sehr wichtige Vertreter gekommen waren."[2]

Schriften

Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende (2019)

2019 veröffentlichte Ralf Stoecker den Beitrag "Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende" in dem von Stephan M. Probst herausgegebenen Sammelband "Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht".[3] Darin heißt es:

Eines der Problem der Transplanteure lag aber darin, möglichst gut erhaltene Spenderorgane zu bekommen; und die bis dahin übliche Praxis, den Herzstillstand eines Organspenders abzuwarten, eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen um dann den Tod zu erklären und die Organe zu entnehmen, schädigte diese Organe ganz erheblich. (86)

Bei DCD wird der 5- bis 10-minütige Herzstillstand dem Tod des Menschen gleichgesetzt. Damit ist es auch hier eine Todesfeststellung, wenngleich auch eine indirekte, aber keinesfalls eine Todeserklärung.

Beide Probleme - ob man die künstliche Beatmung irgendwann beenden und ab wann man Spenderorgane entnehmen dürfe - fanden eine gemeinsame Lösung in dem Verdacht, dass zumindest ein Teil der intensivmedizinisch behandelten Patientinnen und Patienten schon tot waren, obwohl sie beatmet wurden und ihr Herz noch schlug. Sie waren tot, so die Annahme, weil ihre Gehirne tot waren. Das war die Geburtsstunde der Hirntod-Konzeption des Todes. (86)
Und es war, wie gesagt dieses Hirntod-Konzeption des Todes, die den Intensiv- und Transplantationsmedizinern die ersehnte Lösung ihrer Problem verschaffte: Wenn die betreffenden Patienten tot waren, gab es keine Verpflichtung, sie länger intensivmedizinisch zu behandeln. Wenn wie tot waren, wurde es allerdings auch möglich, sie noch eine Zeit lang weiter zu beatmen, um dann schließlich ihre Organe zu entnehmen. (87)

Siehe: Pierre Wertheimer

Von 1992 bis 1997 gab es deshalb in Deutschland eine teilweise erbittert geführte Debatte, ob hirntote Menschen tatsächlich tot sind, die zwar mit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes schell abebbte, aber gut zehn Jahre später wieder aufgenommen wurde, als das President´s Conuncil on Bioethics, eine Art Nationaler Ethikrat des amerikanischen Präsidenten George W. Busch, ein sogenanntes Weißbuch herausbrachte, in dem die am weitesten verbreitete medizinische Begründung für die Hirntod-Konzeption, auf die sich die Ärzteschaft auch in Deutschland hauptsächlich berufen hatte, massiv kritisiert und zurückgewiesen wurde. Spätestens seit dieser Zeit ist es durchaus wieder offen, ob man wirklich annehmen sollte, dass hirntote Menschen tot sind oder nicht. (88)

Siehe: PCB

Doch es gibt zwei sehr starke Argumente gegen diese Begründung. Erstens gibt es auch Menschen, bei denen innen (!) definitiv das Licht ausgeht, ohne dass das ganze Gehirn seine Funktion einstellt. Sie liegen im Wachkoma oder genauer, sie zeigen ein Syndrom reaktionsloser Wachheit, und zumindest bei einem Teil von ihnen kann man davon ausgehen, dass sie definitiv keinerlei bewusstes erleben mehr haben. Zugleich zeigen sie aber, wie es die Bezeichnung 'Wachkoma' schon andeutet, verschiedene Merkmale, die für uns stark darauf hindeuten, dass sie noch am Leben sind: Schlaf-Wach-Zyklen, Spontanatmung, Körperbewegungen. Nicht immer, so scheint es, bedeutet ein unwiderruflicher Bewusstseinsverlust den Tod eines Menschen. (89)

Siehe: Koma und Todesverständnis

Auch wenn man nur auf das Bewusstsein schaut, dann muss man feststellen, dass bei der weitaus größten Zahl von Lebewesen auf der Erde keine Rede von Bewusstsein ist, und trotzdem leben diese Wesen. Pflanzen, niedere Tiere usw. leben und können sterben. Leben, kann man sagen, muss eine allgemeine, biologische Eigenschaft sein, also muss auch der menschliche Tod darin bestehen, dass diese Eigenschaft verloren geht. (90)

Siehe: intermediäres Leben und Todesverständnis

Alan Shewmon ... bestreitet deshalb entschieden, dass es im Körper überhaupt so etwas gäbe wie ein Steuerungsorgan, ohne das der Körper kein dynamisches System mehr wäre. (90)

Siehe: Alan Shewmon

Hirntote seien tot, so das Council, weil sie ihre grundsätzliche Offenheit gegenüber ihrer Umgebung und die Fähigkeit, Einfluss auf diese Umgebung zu nehmen, verloren hätten. Ich muss allerdings gestehen, das ich diesen Vorschlag entweder einfach nicht verstehe, oder er offenkundig falsch ist. Allein die Tatsache, dass die Lunge des Hirntoten nach wie vor Sauerstoff aufnimmt, zeigt doch beispielsweise, dass das System auf seine Umgebung zweckmäßig reagiert. (91)

Einen frisch Verstorbenen könnte man auch noch stundenlang künstlich beatmen und die Lunge würde noch Sauerstoff an das Blut abgeben und das CO2 des Blutes an die Atemluft.

In der Liste der Fähigkeiten, die der hirntote Körper immer noch aufweist, sind einige, die nur dem Arzt zugänglich sind, andere aber, wie auch von außen deutlich erkennbar sind, am deutlichsten die Schwangerschaft einer hirntoten Frau. Das führt zu dem prominentesten Argument gegen die Hirntod-Konzeption. Ihm zufolge sind hirntote Patienten vie zu lebendig, als dass man sie als tot ansehen könnte. (91)

Siehe: schwangere Hirntote und Leben der Hirntote

Hält man an der Hirntod-Konzeption fest, so wie dies in Deutschland üblich ist, dann verlangt man also von den Angehörigen, aber auch von Pflegenden und Ärzten, dass sie eine so grundlegende Veränderung akzeptieren, wie sie der Übergang vom Leben zum Tod darstellt, ohne dass sich etwas an ihrem Erleben der Situation geändert hätte. Das ist auf jeden Fall eine psychologische Belastung. (91)

Weil man sich nicht bemüht, den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthoprologische Tragweite für das Menschsein verstehen will, geht man den bequemen Weg, alles beim Alten zu belassen. Diesen Weg will dieses Organspende-Wiki nicht gehen, sondern sachlich korrekt und umfassend über Hirntod aufklären.

Aus der Sicht von Gegnern der Hirntod-Konzeption ist es aber auch ein Grund, diese Konzeption ganz zurückzuweisen. Leben und Tod haben aus dieser Sicht auch so etwas wie eine phänomenale Seite, die es verbiete, einen lebendig erscheinenden Menschen als 'heimlich tot' anzusehen. (91)

Siehe: Phänomen-Ebene

Wie gesagt, dies sind nur die wichtigsten Argumente für oder gegen die Hirntod-Konzeption, und zumindest meine kursorische Diskussion zeigt, dass keines dieser Argumente wirklich überzeugen kann. Jedenfalls zeigen sie nicht, dass hirntote Menschen schon tot sind. (92)

Das ist eine Vorwegnahme eines Urteils. Siehe: Todesverständnis

Damit stellt sich die spannende Frage, was wir dann tun sollen. Wie sollen wir auf diesen unbefriedigenden Status der Hirntoddebatte reagieren? (92)

Mit einer sachlich korrekten und umfassenden Aufklärung.

Therapeutische Maßnahmen sind an mindestens zwei Bedingungen geknüpft, Indikation und aufgeklärte Einwilligung, ... (92)

Wenn jemand bewusstlos aufgefunden wird, ist zwar eine Indikation gegeben, aber keine aufgeklärte Einwilligung. Hat der Patient einen Suizidversuch unternommen, wird sogar gegen seinen Willen mit der entsprechenden Therapie begonnen. Es fehlt hier somit nicht nur die aufgeklärte Einwilligung, sondern es wird sogar bewusst gegen den (aktuellen) Willen des Patienten gehandelt.

Wenn wir nicht wissen, ob hirntote Menschen tot sind, dann sollten wir auf Nummer sicher gehen und ihnen keine Organe entnehmen. (93)

Siehe: Todesverständnis und Therapieende

Was den Bündelbegriff Leben so suggestiv macht, ist gerade, das seine charakteristischen Merkmale praktisch gleichzeitig enden. Im Tod, so wie wir ihn traditionell kennen, verliert ein Mensch nahezu synchron seine personalen, biologischen und phänomenalen Eigenschaften. Deshalb ist es so unmittelbar einleuchtend, den Tod mit einem dieser drei Verluste zu drei Verluste zu identifizieren. (95)

Siehe: Sterbeprozess und intermediäres Leben

Erst durch die Entwicklung der modernen Intensivmedizin kann es heute geschehen, dass die Verluste der drei Merkmale signifikant auseinanderfallen, dass also die personalen Aspekte entscheidend früher verloren gehen als die biologischen oder phänomenalen. Der Tod auf der Intensivstation ist gegenüber dem traditionellen Tod sozusagen ausgefranst. (95)

Siehe: intermediäres Leben, Phänomen-Ebene, Scheintod und Todesverständnis

Es ist eine Grauzone der Verwendung des Lebensbegriffs entstanden, in der man nicht so recht weiß, ob die betreffende Person noch am Leben ist oder nicht. (95)

Bei Hirntod ist der Mensch tot. Siehe: Todesverständnis

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Der Hirntod (2010)

Ralf Stoecker veröffentlichte 2010 das Buch "Der Hirntod".[4] Darin heißt es:

Prominentestes Indiz für diesen Wandel war die ausführliche Stellungnahme 'Controversies in the Determination of Death' des 'Prresident´s Councill on Bioethics' im Dezember 2008, in der jedenfalls alle bis dato diskutierten Begründungen der Hirntod-Konzeption in Bausch und Bogen für untauglich erklärt wurden. (XVI)

Es gab bis dahin 2 Hauptargumente: 1. Mit dem Hirntod ging die zentrale Steuerung für die grundlegenden Funktionen des Körpers (Homöostase) verloren. 2. Mit dem Hirntod sind alle geistigen Fähigkeiten erloschen. Das PCB konnte nur 1. relativieren, 2. blieb unangetastet.

Spätestens seit Mitte der Sechszigerjahre des letzten Jahrhunderts wird über die Frage nachgedacht, ob Menschen, deren Gehirn abgestorben ist, schon tot sind oder nicht. In Deutschland geschah dies vor allem in den Jahren zwischen 1992, als der Fall des so genannten Erlanger Babys große öffentliche Aufmerksamkeit erregte, und 1997, als der Deutsche Bundestag das Transplantationsgesetz verabschiedete und sich damit (nach verbreiteter Leseart) hinter die Hirntod-Konzeption stellte. (XIX)

Bereits in den 1960-er Jahren entwickelte sich in Medizin und Recht die Überzeugung, dass Hirntote als Tote anzusehen ist. Die genannte Diskussion der 1990-er Jahre wurde vor allem philosophisch, theologisch und politisch geführt. Für die Medizin blieben Hirntote nach wie vor Tote.

Spätestens in den siebziger und achtziger Jahren etablierte sich deshalb in der medizinischen Ethik die Einsicht, dass es unter Umständen besser sein kann, einen Menschen medizinisch im Sterben zu begleiten, anstatt ihn mit allen Mitteln am Sterben zu hindern. Und niemand bezweifelte, dass dies auch auf hirntote Patienten zutraf. (XXIf)

Für die überwiegende Zahl der Mediziner war schon in den 1970-er Jahren klar und blieb dies bis heute, dass Hirntote keine Patienten sind, sondern Tote. Daher ist der letzte Satz unzutreffend.

Hirntote haben zwar viel geringere homöostatische Fertigkeiten als ein gesunder Mensch, so dass sie auf die Unterstützung der Intensivmedizin angewiesen sind, damit ihr Organismus nicht 'entgleist'; anders als Leichen haben sie aber immerhin noch genügend dieser Fähigkeiten, um die medizinischen Unterstützungsmaßnahmen überhaupt erst möglich zu machen. (XXVI)

Siehe: Sterben auf der Intensivstation

Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ für die Aufrechterhaltung des menschlichen biologischen Lebens, aber auch das Gehirn ist nicht unverzichtbar. (XXVII)

Siehe: Menschenbild, Todesverständnis

Gemäß der Hirnstamm-Konzeption des Todes müssten allerdings auch Menschen als tot rubriziert werden, die nach gewöhnlichem Verständnis eindeutig noch leben, insbesondere Patienten mit einem vollständige Locked-in-Syndrom, die zwar bei Bewusstsein sind, jedoch keine Möglichkeit haben, sich zu äußern. (XXVII)

Siehe: Locked-in-Syndrom

Es führt kein Weg daran vorbei, die Dead Donor Rule hinter sich zu lassen. (XLIX)

Doch, eine sachlich korrekte und umfassende Aufklärung über Hirntod.

Ob Hirntote tot sind, ist eine philosophische Frage, und zwar sogar in einem doppelten Sinn. Erstens muß man sie mit philosophischen Methoden beantworten, und zweitens braucht man die philosophische Perspektive, um einzuschätzen, was man überhaupt mit dieser Antwort erreicht hat. (18)

Die Frage kann nur - ob medizinisch, juristisch, philosophisch oder theologisch - korrekt beantwortet werden, wenn der pathophysiologische Zustand und anthropologische Tragweite des Hirntodes korrekt verstanden wurde.

In keinem Sinn ist ein hirntoter Mensch tot (20)
Deshalb ist es wenig verwunderlich, wenn sich keine allgemein anerkannte, überzeugende Antwort auf die Frage finden läßt, ob der Mensch tot ist oder nicht. So wie man nicht weiß, ob Bungiee-Springen ein Spiel ist, selbst wenn man genau weiß, wie es vor sich geht, so weiß man eben auch nicht, ob Hirntote tot sind, selbst wenn man alle Details des Absterbevorgangs kennt. (47)

Siehe: Todesverständnis

Anders ausgedrückt, es fragte sich damals, ab wann der Mensch tot ist, und dahinter stand das Interesse zu wissen, ab wann man mit ihm bestimmte Dinge anstellen durfte - nur daß man es nicht wissen wollte, wie zu Poes Zeiten, um ihn zu beerdigen, sondern um ihm Organe zu entnehmen. Das war der zweite und und vermutlich einflußreichere Faktor, der dazu geführt hat, die traditionelle Herztod-Definition in Frage zu stellen. (36)

Siehe: Chronik/Hirntod und Pierre Wertheimer

Menschen mit einem zerstörten Gehirn sind ihr zufolge tot und stehen damit prinzipiell als Organspender zur Verfügung. (36)

Wenn Hirntote nicht mehr künstlich beatmet werden, bleibt ihr Herz stehen und sie sind dann für die Organspende ungeeignet.

Wenn diese Schwierigkeiten ausgeräumt sind, setzt aber erst die eigentliche Diskussion der Konzeption des cortikalen Todes ein, d.h. es gilt zu überprüfen, ob wirklich dieselben Argumente, die für die Hirntod-Konzeption ins Feld geführt werden können, auch für die weitergehende Teilhirntod-Konzeption sprechen. Das ist angesichts der gravierenden Unterschiede zwischen dissoziiert hirntoten und unwiderruflich apallischen Menschen nicht selbstverständlich. (41)
In der Hirntod-Debatte ging es also um zwei Fragen, erstens ob der Übergang von der Herztod- zur Hirntod-Konzeption akzeptabel ist, und zweitens, ob er nicht in einem nächsten Schritt durch eine der schärferen Teilhirntod-Konzeption ersetzt werden sollte. (42)

Nach über 50 Jahren Hirntodkonzept gibt es nur Stimmen einzelner Leute, aber keine ernstzunehmende Entwicklung, dass das Hirntodkonzept aufgeweicht wird.

Trotzdem werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen immer wieder darauf verweisen, welche Konsequenzen ein bestimmtes Argument für die Konzeption des cortikalen Todes hat, und ich werde in diesem Zusammenhang davon ausgehen, daß es tatsächlich so etwas wie ein endgültig bestehendes apallisches Syndrom ohne jede Empfindungsfähigkeit gibt, auch wenn dies, wie gesagt, keineswegs selbstverständlich ist. (41f)

Bei Hirntod sind nicht nur die geistigen Funktionen - so wie beim apallischen Syndrom - erloschen, sondern auch die physiologischen (Homöostase).

Bei der Hirntod-Debatte ist es dagegen weitgehend unstrittig, daß sie nicht medizinisch-naturwissenschaftlicher, sondern in erster Linie philosophischer Natur ist. (42)

Jede wissenschaftliche Disziplin darf sich gerne an der Hirntod-Debatte beteiligen, nur sollten die Diskussionsteilnehmer zuerst die geschichtliche Entwicklung zum Hirntod sowie fehlerfrei und umfassend den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthropologische Tragweite kennen. Sie sollen wissen, wovon sie reden.

Man muß etwas über das Funktionieren des Gehirns wissen, um sie beantworten zu können. Ob sie aber ganz in den Bereich der Biowissenschaften fällt, hängt davon ab, ob die Eigenschaften, die im Tod verloren gehen, selbst in den Bereich der Medizin oder Biologie fallen. Zählen sie nicht dazu (weil es z.B. psychische Eigenschaften sind), dann ist diese zweite Frage ein interdisziplinäres Unterfangen. (45)

Das Gehirn besteht aus Neuronen. Neurowissenschaft ist ein Teilgebiet der Medizin, nicht der Biologie. Ein "Produkt" des Gehirns ist der Geist. Mit seiner Entstehung beschäftigt sich die Neurowissenschaft und die Psychologie, beide Teilgebiete der Medizin. Die Biologie ist somit hierbei völlig außen vor. Die Philosophie stellt nur fest, dass Geist da ist bzw. fehlt. Wie dieser jedoch naturwissenschaftlich entsteht, ist kein Forschungsgebiet der Philosophie. Daher gehört das Thema Hirntodkonzept völlig und ausschließlich in den Bereich der Medizin.

Der Begriff des Todes hat eine reiche Geschichte und umfassende außerwissenschaftliche Verwendung, als daß es verständlich wäre, weshalb man Medizinern die Expertise zubilligen sollte, mit welchen Eigenschaften resp. Verlusten der Tod verbunden ist. Derartige begriffliche Analysen sind vielmehr ein traditioneller Bestandteil philosophischer Forschung. Deshalb ist die Frage, ob ein hirntoter Mensch tot ist, zuallererst eine philosophische Frage, bevor sie dann auf der zweiten Stufe eine naturwissenschaftliche Dimension hinzugewinnt, um schließlich auf der dritten Stufe, auf der es nur um das Verfahren der Hirntod-Diagnose geht, allein Sache von Medizinern zu sein. (46)

Es ist korrekt, dass die Philosophie traditionell Begrifflichkeiten analysiert. Ob ein Mensch lebt oder tot ist, fällt jedoch primär in den Bereich der Medizin. Siehe: Todesverständnis

Die unversöhnlichen Differenzen zwischen Gegnern und Befürwortern der Hirntod-Konzeption wecken Zweifel, ob eine Analyse des Todesbegriffs überhaupt geeignet wäre, diesen Streit zu schlichten. (46)

Wenn man nicht den Tod der Zellen und des Körpers, sondern den Tod des Menschen im Blick hätte, könnte dieser Streit geschlichtet werden.

... dies anstatt auf mangelhafte begriffliche Einsicht auf eine Unschärfe des Todes-Begriffs zurückzuführen. (47)

Das Problem liegt an der mangelhaften begrifflichen Einsicht und dem mangelnden Übung, über Sterben und Tod korrekt zu sprechen. So ist z.B. nicht der Tod ein Prozess, sondern das Sterben.

Während es bis zur Mitte unseres Jahrhunderts keinen Grund gab, sich um eine Grenze im Ablauf des Absterbens zu bemühen, die es erlaubte, Hirntote diesseits oder jenseits dieser Grenze zu lokalisieren, so daß der Begriff des Todes an dieser Stelle vage bleibt, entstand mit den Fortschritten der Medizin die Notwendigkeit der schärferen Grenzziehung. (49)

Vor 1952 gab es keine Hirntoten, weil Hirntote dauerhaft eine künstliche Beatmung benötigen, die erst 1952 von Björn Ibsen eingeführt wurde.

Gegen die Beschränkung der Untersuchung auf die Bedingungen des Lebens gibt es allerdings einen Vorbehalt, die Feststellung, dass tot zu sein nicht nur bedeutet, nicht mehr zu leben, sondern auch: den Tod erlitten zu haben. Eine Untersuchung der Frage, ob jemand tot ist, sollte jedenfalls auch etwas über den Tod sagen. (55)

Alle Steine sind tote Materie. Keiner von ihnen hat je gelebt und damit den Tod erlitten. Leben und Tod wird von Stoecker mit dieser Aussage nur in Hinblick auf verstorbene Lebewesen - explizit auf verstorbene Menschen - gesehen, nicht im naturwissenschaftlichen und damit globalen oder gar kosmologischen Sinn.

Die Antwort, die ich vorschlagen möchte lautet: Der Tod ist das Sterben. (57)

Sterben ist ein Prozess, der Tod ist eine Definition, ist ein Schnitt in diesem Prozess.

Zweifellos hatte Bloch Recht, daß es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen der Angst vor dem Sterben selbst und dem Grauen des Todes, der sich z.B. darin manifestiert, daß es sowohl möglich ist, das Sterben zu fürchten, nicht aber den Tod, wie auch umgekehrt. Dann aber, so der Einwand, könnte der Tod nicht das Sterben sein. Doch dieser Schluß ist unzulässig. Die Differenzierung zwischen der Furcht vor dem Tod und der vor dem Sterben 'selber' deuten nur darauf hin, daß die beiden Bezeichnungen, obwohl sie fr dasselbe Ereignis stehen, unterschiedliche Konnotationen haben. (57)
Ich komme deshalb zu dem Schluß, daß keiner der genannten Einwände zeigt, daß Tod, Sterben und Lebensende nicht ein und dasselbe Ereignis sind. (61)

Dies widerspricht der Nomenklatur von Sterben und Tod.

Für die Ausgangsfrage ist es nicht wichtig, wie dick die Grenze ist, sondern nur, wie scharf sie ist. So wie die Qualität eines Lineals nicht von seiner Breite abhängt, sondern von der Exaktheit der Anschlagkante, so hängt die Präzision der Auskunft, ab wann ein Mensch tot ist, nicht davon ab, wie lange sich das Sterben hinzieht, sondern davon, wie genau sich das Sterben lokalisieren läßt. Weiß man exakt, wann das Sterben zu Ende ist, dann weiß man auch exakt, ab wann der Mensch tot ist. (66)

Warum wurde dann zuvor seitenlang über die Dicke der Grenze philosophiert? Warum geht es dann wieder mit der Unschärfe der Grenze (sumpfiges und felsiges Ufer) weiter?

Wie scharf die Grenze des Lebens ist und welche Stadien des Absterbens in die Grauzone fallen, welche dagegen nicht, läßt sich nur dadurch klären, daß man untersucht, was es heißt, am Leben zu sein. (67)

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist durch die Definition messerscharf. Die Feststellung des Todes ist immer retroperspektivisch und hinkt daher immer Sekunden und Minuten, meist aber Stunden hinter dem eingetretenen Tod hinter her. Die Sicherheit der Todesfeststellung macht dies notwendig. Wer meint, dass er diese Zeitspanne verkürzen könne, ohne die Sicherheit der Todesfeststellung zu gefährden, darf sich gerne bei den Ärzten melden.

Allein die historische Feststellung, daß es Menschen gegeben hat, die für tot gehalten wurden, ohne wirklich tot zu sein, beantwortet diese Frage nicht, denn stets läßt sich argumentieren, daß es falsche Anzeichen waren, die berücksichtigt wurden. Die Menschen waren sozusagen nicht 'wirklich' scheintot. Es gibt einen anderen, besseren Grund, der für die prinzipielle Möglichkeit des Scheintodes spricht: die Spannung zwischen dem phänomenalen Lebensbegriff und der Endgültigkeit des Todes. (69)

Die Anzeichen waren nie falsch, sondern immer deren Interpretation. - Siehe: Scheintod

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Ralf Stoecker veröffentlichte das Buch erstmals 1999 und in der Studienausgabe 2010. In beiden Ausgaben benutzte er die alte Rechtschreibregel (z.B. "daß" statt "dass"). Dabei gab es 1996 eine Rechtschreibreform. So traditionell, wie sich Ralf Stoecker bei der Rechtschreibung zeigt, so traditionell zeigt er sich auch im Todesverständnis. Ohne den Sachverhalt, über den er 340 Seiten (ohne Literaturverweise) schreibt, tiefergehend zu kennen, tritt er in die Fußstapfen von Hans Jonas, der sich vor allem von dem Begriff irreversibles Koma irreleiten ließ. Ralf Stoecker wie auch Hans Jonas muss jedoch bescheinigt werden, dass sie den pahtophysiologischen Zustand des Hirntodes nicht umfassend und nicht fehlerfrei verstanden haben und daher falsche anthropologische Schlussfolgerungen ziehen.

Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland (2009)

2009 veröffentlichte Ralf Stoecker den Artikel "Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland".[5]

Der Verweis auf die ‚Lebendigkeit‘ legt allerdings eine andere Reaktion der Hirntodkritiker viel näher, nämlich zu bezweifeln, dass ein Mensch mit dem Verlust des personalen Lebens, sprich: aller mentalen Eigenschaften, notwendigerweise schon tot ist. (46)

Selbst im Großhirntod ist mit dem Hirntod mehr ausgefallen, als die "mentalen Eigenschaften". Nicht mit in den Blick genommen sind mit den "mentalen Eigenschaften" die Aufgaben und Funktionen des Hirnstamms. Diese sind beim Gesamthirntod auch erloschen.

Was dagegen spricht ist zum einen die Feststellung, dass auch manche nicht hirntote Menschen keine mentalen Eigenschaften haben (unwiderruflich bewusstlose Wachkomapatienten, anenzephale Säuglinge), so dass man diese ebenfalls als tot ansehen müsste, was absurd wäre. (46)

Bei Wachkomapatienten sind nicht alle Hirnstammreflexe erloschen, bei Hirntoten sehr wohl. - Anenzephalie hat unterschiedliche Ausprägungen. Nur ein Neugeborenes, das weder Großhirn, Kleinhirn noch Hirnstamm hat, entspricht dem pathophysiologischen Zustand von Hirntoten. Da diesem anenzephalen Neugeborenen sämtliche Hirnstammreflexe - darunter der lebenswichtige Atemreflex - fehlen, wird es als Totgeburt entbunden.

Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ für die Aufrechterhaltung des menschlichen biologischen Lebens, aber auch das Gehirn ist nicht unverzichtbar. (46)

Das Gehirn ist insofern verzichtbar, als heutige Intensivmedizin für einen begrenzten Zeitraum die ausgefallene Homöostase ersetzen kann. Doch das Wesen des Menschen besteht nicht in einem funktionierenden Blutkreislauf, sondern in der Wahrnehmung seiner Selbst und seiner Umwelt sowie der Interatktion mit diesen. Dies kann die Medizin nicht ersetzen.

Hirntote haben diese homöostatische Fertigkeit in viel geringerem Maße als ein gesunder Mensch, sie sind deshalb erheblich auf die Unterstützung der Intensivmedizin angewiesen, damit ihr Organismus nicht „entgleist“, zugleich haben sie aber noch eine ganze Reihe dieser Fähigkeiten, sonst wären die medizinischen Unterstützungsmaßnahmen, die sich nicht wesentlich von der intensivmedizinischen Betreuung nicht hirntoter Patienten unterscheiden, gar nicht möglich. Herztote Menschen haben hingegen alle homöostatischen Fähigkeiten verloren (selbst wenn noch eine Zeit lang in einzelnen Zellen ein Kreislauf erhalten bleibt). (47)

Der Aufwand, der für Hirntote betrieben werden muss, damit sie einen stabilen Blutkreislauf haben, ist enorm. Dagegen ist es mit einer ECMO sehr einfach, bei einem frischen Herztoten die Blutkreislauf weiterhin aufrecht zu erhalten.

Der Herztote, könnte man sagen, lebt biologisch gesehen gar nicht mehr, der Hirntote nur noch ein bisschen, wir dagegen voll und ganz. (47)

Herztote haben einen über Tagen erlöschenden Anteil intramediären Lebens. Hirntote haben einen maximalen Anteil intermediären Lebens, das über Tage und Wochen, bei jungen Hirntoten auch über wenige Monate aufrecht erhalten werden kann.

Aber auch wer nur ein bisschen lebt, lebt. (47)

Dann leben Herztote mit intramediärem Leben? Siehe: Sterbeprozess

Bleibt uns also nichts anderes übrig als am Ende doch noch in den sauren Apfel zu beißen und die Transplantationsmedizin als eine moralisch unhaltbare Opferung Sterbender zugunsten schwerkranker Dritter abzulehnen? (48)

Siehe: Diffamierung

Es werden längst nicht so viele Organe gespendet wie benötigt werden, und es ist auch nicht absehbar, dass sich diese Schere tendenziell schließen wird. Deshalb wird schon lange nach Abhilemaßnahmen gesucht. Eine dieser Möglichkeiten besteht nun aber darin, den Kreis der potentiellen Spenderinnen und Spender auszuweiten. In der Hirntoddebatte war im Zusammenhang mit so genannten "Großhirntod-Konzeptionen" gelegentlich geargwöhnt worden, dass man auch Wachkomapatienten als Spender nutzen wollte. Tatsächlich hat sich die Transplantationsmedizin aber einer anderen Spendergruppe zugewandt, Patienten mit Herzstillstand. (49)

In Deutschland ist keine Bemühung zu erkennen, von Gesamthirntod abzuweichen. In Deutschland sind die BÄK und andere medizinische Gesellschaften gegen die Einführung der DCD. Daher sind diese beiden Themen für Deutschland reine Panikmache.

Für aussichtslos halte ich alle Versuche, doch noch irgendwie festzustellen, dass die hirntoten Spender und die Spender mit Herzstillstand in Wirklichkeit tot sind. In meinen Augen hat Truog Recht, dass dies nur mit massiver Selbsttäuschung gelingen kann. (56)

Mit oberflächlichem Wissen über Hirntod ist wohl dieser von Truog vorgeschlagene Weg zu gehen. Sinnvoller ist jedoch, dass zumindest unter den gebildeten Menschen die Bemühung vorherrschen sollte, den pathophysiologischen Zustand des Hirntodes und seine anthropologische Tragweite besser zu verstehen.

Will man trotzdem daran festhalten, dass Transplantationen nützlich und sinnvoll sind, dann liegt es zunächst nahe, sich in das andere Horn des Dilemmas zu stürzen und beispielsweise mit Truog zu akzeptieren, dass man unter Umständen Organe entnehmen darf, auch wenn die Spender noch nicht tot sind, also die Dead Donor Rule aufzugeben. Das Problem für diesen Vorschlag liegt allerdings in der Gefahr, dass damit Tür und Tor für andere Formen der fremdnützigen Tötung geöffnet werden, z.B. von dauerhaft komatösen Menschen, hinsichtlich derer ebenfalls die Frage gestellt werden könnte, ob es nicht besser wäre, mit ihren Organen einen oder mehrere kranke Mitmenschen zu retten. (56)

Aus diesem Grund sollte man den Hirntod besser verstehen, um dann selbst zu erkennen, dass Hirntote Tote sind.

Wenn man sich aber auf keines der Hörner eines Dilemmas einlassen will, dann sollte man sich auch besser gar nicht erst hinein begeben. Diese Strategie scheint mir die aussichtsreichste zu sein. (56)

Damit wären Hirntote bis zum Herzstillstand intensivmedizinisch zu versorgen.

Diese moralische Grundannahme über den Tod konnte sich deshalb so lange halten, erstens weil die Menschen in der Regel so gestorben sind, dass sie innerhalb einer kurzen Frist alle diese Verluste durchlaufen haben, und zweitens weil es innerhalb dieser Spanne keinen Handlungsbedarf gab. (58)

Dies gilt bis Ende des 18. Jh. Seit den ersten erfolgreichen Reanimationen ist die Trennlinie zwischen Leben und Tod nicht mehr so klar.

.. man konnte es sich leicht erlauben, den Menschen in Ruhe zu Ende sterben zu lassen (und zudem die Scheintod-Gefahr zu bannen), denn es gab keinen Grund zur Eile. (58)

Bei Hirntoten stand zunächst die Rettung des Lebens und Wiederherstellung der Gesundheit im Fokus, als man mit den Maßnahmen der Intensivmedizin begann. Dies rettet auch vielen Menschen das Leben, aber bei einigen wenigen ist jedoch die Grunderkrankung so schwerwiegend, dass schließlich ein Hirntoter auf der Intensivstation liegt. Was ist nun mit ihm zu tun?

Wie steht es beispielsweise mit unseren Menschenrechten? Haben wir sie nur so lange wir leben, und wenn ja, warum? (59)

Mit dem Tod verliert der Mensch seine Menschenrechte, weil er mit Eintritt des Todes kein Mensch mehr ist, sondern ein Leichnam. Es ist zwar ein menschlicher Leichnam, aber eben ein Leichnam.

Kurz, ich plädiere dafür, die Hirntod-Debatte wieder aufzunehmen, allerdings in der Erwartung, dass wir dabei feststellen werden, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt zu entscheiden, ob hirntote Menschen oder Menschen unmittelbar nach dem Herzstillstand tot sind oder noch leben – auch wenn vieles für letztere Antwort spricht –, sondern dass es darauf ankommt, wie wir mit ihnen umgehen dürfen und sollten, gegeben, dass wir uns nicht mehr auf die moralische Grundannahme über den Tod verlassen dürfen. (59)

Ich plädiere dafür, dass wir uns den pathophysiologischen Zustand Hirntod und seine anthropologische Tragweite aneignen, insbesondere die Menschen, die über Hirntod publizieren.

Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht (2003)

2003 veröffentlichte Ralf Stoecker den Artikel "Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht".[6] Darin heißt es:

Diese zweite begriffliche Vorbemerkung, daß es genau genommen um das Totsein und nicht den Tod geht, ist deshalb wichtig, weil in der Debatte gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass der Tod ein zeitlich ausgedehnter Prozeß sei, um daraus dann den Schluß zu ziehen, also ließe sich nicht genau bestimmen, wann ein Mensch tot ist. Die Prämisse stimmt, der Tod ist ein Prozeß, aber die Konklusion folgt daraus nicht, denn tot ist der Mensch erst dann, wenn er diesen Prozeß hinter sich hat, und inwiefern sich dieser Zeitpunkt genau lokalisieren läßt, hängt nicht von der Dauer des Todes-Prozesses ab, sondern davon, wie abrupt er endet. (51)

Sterben ist ein Prozess, Tod ist eine Definition. Siehe: Sterbeprozess

Was immer die Medizin an Wiederbelebungsmaßnahmen erfinden wird, so ist es doch undenkbar, daß sie die Toten wieder auferwecken wird, allenfalls kann sie noch mehr Zustände als Scheintod entlarven als heute bekannt sind. (51)
Es gibt traditionell eine Vielzahl von Vorschlägen für Merkmale, die ein Lebewesen von unbelebten Dingen auszeichnen: Stoffwechsel z.B., Wachstum und Reproduktion, Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit. Aber nicht alles, was zur Unterscheidung zwischen Lebewesen und dem Rest der Welt tauft, ist auch geeignet, zwischen lebenden und toten Lebewesen zu unterscheiden. Das ist vielleicht am deutlichsten bei der Fortpflanzungsfähigkeit. Auch wenn es stimmen mag, daß sie ein Kennzeichen für Lebewesen ist, so ist sie sicher untauglich, das Leben des einzelnen Wesens zu begrenzen. Man ist eben noch längst nicht tot, wenn man nicht mehr zeugungsfähig ist. (52)
Daran schließt sich unmittelbar als viertes Problem die Frage an, wie sich genau der Verlust der Regulationsfähigkeiten und der des Lebens zueinander verhalten. Ist das Wesen schon tot, wenn es irgendeine seiner Regulationsfähigkeit verloren hat? Das kann nicht sein, wie das Beispiel der künstlichen Beatmung zeigt. Oder ist es erst tot, wenn es alle diese Fähigkeiten verloren hat? Das kann es auch nicht sein, denn gerade auf zellulärer Ebene laufen diese Prozesse auch bei unzweifelhaft toten Lebewesen noch eine ganze Zeit lang weiter. Bei welchem Verlust ist das Wesen dann aber tot? (53)
Deshalb reagieren Verfechter der Hirntod-Konzeption gewöhnlich anders auf die genannten Probleme: erstens indem sie zwischen zentralen undn peripheren Steuerungsmechanismene unterscheiden und das Leben alleien an die Existenz der zentralen Mechanismen knüpfen, und zweitens indem sie davon ausgehen, daß ein Mensch erst dann tot ist, wenn er alle diese vitalen Fähigkeiten unwiderruflich verloren hat. Unter diesen Umständen kann man dann die Aufrechterhaltung einiger dieser Fähigkeiten, z.B. durch die künstliche Beatmung eines zweifellos lebenden Intensivpatienten, als Hilfe zur Selbstregulierung des Organismus betrachten, während eine Substitution aller vitalen Fähigkeiten als externe Erhaltung eines nicht mehr selbstregulierten Organismus gilt, z.B. beim Hirntoten. (54)
Was so suggestiv ist, ist die ganz einfach Überlegung:

1. Prämisse (Ebene 1): Ein Mensch ist tot,wenn er endgültig das Bewußtsein verliert.
2. Prämisse (Ebene 2): Hirntote Menschen haben endgültig das Bewusstsein veroren.
Konklusion: Sie sind tot.
Wie suggestiv diese Überlegung ist, zeigt sich nicht nur bei den Befürwortern der Hirntod-Konzeption, sondern auch auf Seiten ihrer Gegner, nämlich in dem großen Stellenwert, den Zweifel an der zweiten Prämisse in der Debatte einnehmen, also Zweifel daran, ob man nicht ohne funktionnstüchtiges Gehirn möglicherweise doch noch etwas empfinden kann. (57)

Hirntoten ist alle Wahrnehmung für immer erloschen.

Nach dieser Antwort, die ursprünglich auf John Locke zurückgeht, gibt es so etwas wie ein mentales Band, eine Abfolge von Erlebnissen, Gefühlen und Gedenken von meinem daligen zu meinem heutigen und weiter zu meinem künftigen Ich. Dieses biiographische Band stellt die Identität her. (59)
Dieses sogenannte 'ontologische' Argument für die Hirntod-Konzeption ist, wie gesagt, eher etwas für Philosophen als für Praktiker, es findet aber seine Entsprechung in einer Reaktion von Angehörigen schwer hirnverletzter Menschen, von der häufig berichtet wird, daß die Angehörigen nämlich einen Unterschied machen zwischen dem eigentlichen und dem erst später eintretenden medizinischen Tod der Patienten. (60)
Diesseits bestimmter religiöser Überzeugungen gibt es keinen Grund zu bezweifeln, daß ein Mensch so lange existiert, wie sein Körper noch nicht zerstört ist, und das tritt gewöhnlich erst einige Zeit nach seinem Tod ein. Es gibt deshalb aus ontologischer Sicht keinen Grund für die Gleichsetzung des Todes mti dem Ausfall des Gehirns oder gar nur eines Teils des Gehirns. Damit komme ich zu dem Schluß, daß es überhaupt keine überzeugende begriffliche Verknüpfung zwischen Leben und Bewußtsein gibt, abgesehen von der selbstverständlichen Feststellung, daß jemand, der bei Bewußtsein ist, natürlich auch lebt. Auf diesem Weg findet sich also keine Antwort auf die Frage, wann ein Mensch tot ist. (61)

Es ist auch sicher, dass kein Toter Bewusstsein hat.

... behandeln wie andere Intensiv-Patienten auch, daß sie also beispielsweise mit ihnen reden, die Körperpflege durchführen usw., während sie sie nach der Organentnahme mühelos als Leichen behandeln. (62)

Auch Tote werden gewaschen - eine Form der Körperpflege - und sauber angezogen. Viele Trauernde reden auch mit ihren Verstorbenen, selbst noch nach dem Begräbnis.

Muß man sie weiter intensivmedizinisch behandeln, oder dar man sie weitersterben lassen? Darf man ihnen lebenswichtige Organe entnehmen, oder muß man ihre körperliche Integrität bewahren? (62)

Das Wort "weitersterben" drückt aus, dass Hirntote für den Autor keine Tote sind, da für ihn ihr Sterbeprozess noch nicht beim Tod angekommen ist. - Die Verknüpfung von Hirntod und Organspende gibt es nicht aus der Diskussion um den Tod. Vielmehr ist es so, dass durch die Feststellung des Todes die Organentnahme möglich ist, wenn eine Zustimmung hierfür vorliegt.

Mit dem Tod eines Menschen ändert sich schlagartig die moralische Verpflichtungen, die wir ihm gegenüber haben, denn so lange er lebt, hat er wie alle lebenden Menschen einen ganz besonderen Status, er hat Rechte und wir sind zur Rücksichtnahme und unter Umständen auch zur Hilfe verpflichtet. Sobald sein Leben aber zu Ende ist, verliert er diesen Status (abgesehen von einem kleinen Rest, der der Pietät geschuldet ist). (62)

Dieses Verpflichtung der Hilfe gegenüber den Organ-Patienten wird kaum gesehen.

Es ist klar, daß wir einen anderen, einen höheren Anspruch auf moralische Rücksichtnahme haben als eine Fliege oder ein Efeu. Also basiert unser moralischer Status nicht nur darauf, daß wir biologisch am Leben sind. (63)
Dann aber ist es die Anfälligkeit für Schädigung au der unser moralischer Status basiert, und man ist bei deiner weiteren wichtigen Frage im Zusammenhang mit dem Hirntod angelangt, der Frage, ob man Hirntoten noch schaden kann. In vielerlei Hinsicht kann man das zweifellos nicht. Man kann ihnen, wie schon gesagt, kein Leid zu fügen, man kann ihnen aber auch beispielsweise keine Chance für die Zukunft verbauen, denn sie haben keine mehr. (65)
In anderer Hinsicht kann man Hirntoten aber sicher noch schaden, nämlich indem man sie so behandelt, daß ihre Persönlichkeit insgesamt Schaden nimmt. ... Hirntote auch für andere Zwecke genau so einzusetzen wie Leichen, beispielsweise für Medikamentenversuche, zur Chirurgieausbildung und als Blutbanken. (65)

Personen sind per Definition immer lebende Menschen (siehe: Personenstandsgesetz). Da Hirntote keine Lebende sind, können sie auch keine Person sein und kann damit auch nicht ihre Persönlichkeit schaden nehmen. - Für die o.g. Verwendungszwecke von Leichen muss eine Zustimmung vorliegen. Wenn diese Zustimmung für Hirntote vorliegt, können auch Hirntote für solche Zwecke verwendet werden.

{{Zitat|Der Fehler liegt also nicht darin, daß diese Merkmale ethisch belanglos sind, sondern in dem Versuch, unter ihnen eines auszusuchen, auf dem der moralische Status des Menschen beruht, den er dann mit dem Tod schlagartig verliert. (66)}

Wenn man diese Annahme, die ethische Grundannahme über den Tod, aber aufgibt, dann kann man zugestehen, daß ein Mensch am Ende seines Lebens eine Vielfalt von Verlusten erleidet, die die Pflichten anderer ihm gegenüber stark verringern, ohne daß man sich aber für einen dieser Verluste als den Abbruch des moralischen Status entscheiden müßte. (66f)
Es gibt keine Schwelle, von der ab der Mensch plötzlich keinen moralischen Status mehr hat, es gibt nur die verschiedenen Verluste, die dazu führen, daß das Verhalten der anderen Menschen ihm gegenüber immer weniger restringiert wird. (67)

Beim Herz-Lungen-Tod setzt zunächst die Atmung aus (z.B. um 10:10 Uhr), dann das Herz (z.B. um 10:15 Uhr). Mit dem irreversiblen Herzstillstand ist der Tod des Menschen eingetreten. Gesichert (Nachweis der Irreversibilität) wird er erst mit der Sichtung der sicheren Todeszeichen, den Totenflecken und der Totenstarre (z.B. um 12:30 Uhr). Dann erst wird der Totenschein unterschrieben. Als Todeszeitpunkt wird 10:15 Uhr eingetragen, dem Zeitpunkt des letzten Herzschlages. Es ist ein Kriterium, an dem wir bis heute den Tod feststellen, es ist sogar das häufigste angewandte Kriterium.

Ich plädiere für eine radikale, zweite ethische Wende, eine Abkehr von der herkömmlichen Hirntod-Debatte hin zu einer direkten moral-philosophischen Diskussion der verschiedenen medizinischen Handlungsoptionen bei Hirntoten. Es geht nicht darum zu entscheiden, ob hirntote Menschen schon tot sind oder nicht, es geht darum zu klären, was es heißt, Patient mit schweren Hirnschädigungen aber auch andere Patienten am Ende ihres Lebens menschenwürdig zu behandeln angesichts des Zustands, in dem sie sich befinden. (68)
Und wie die moralphilosophische Untersuchung zeigt, basiert diese Frage zudem auf einer zweifelhaften Prämisse, der ethischen Grundannahme für den Tod, der zufolge ein Mensch mit seinem Tod schlagartig seinen moralischen Status verliert. Viel plausibler ist eine Art ethisches Stufenmodell des Lebensendes, dem zufolge ein Mensch stufenweise die Voraussetzungen dafür einbüßt, von anderen Menschen moralisch oder unmoralisch behandelt werden zu können. (69)

Beim erfolglosen Versuch einer Reanimation gibt es dieses Stufenmodell keinesfalls: Unter Normalbedingungen, darunter ca. 20°C, erfährt ein Erwachsener mit Herzstillstand für ca. 30 Minuten eine Herzdruckmassage und künstliche Beatmung. Es werden ihm auch Medikamente gespritzt, damit das Herz wieder zu schlagen beginnt. Bei Herzkammerflimmern erfährt er für ca. 30 Minuten immer wieder Elektroschocks, um das Herz wieder zu einem normalen Herzschlag anzuregen. Konnte in beiden Fällen - 30 Minuten Herzstillstand bzw. 30 Minuten Herzkammerflimmern - kein normaler Herzschlag erzielt werden, wird jeder weitere Versuch der Reanimation abgebrochen. Der Zeitpunkt des Abbruchs wird als Todeszeitpunkt in den Totenschein eingetragen. Da gibt es keine Abstufung, sondern nur "noch Leben" und "jetzt Tod".
Daran wird der Dualismus zwischen Leben und Tod deutlich, den es schon immer gab.Nur haben sich die Kriterien zur Feststellung des Todes im Laufe der Geschichte gewandelt. Geblieben ist jedoch der Dualismus zwischen Leben und Tod. Daran wird auch deutlich, dass Sterben ein Prozess ist, der Tod jedoch eine Definition. Ebenso ist es auch mit dem Hirntod.

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Anhang

Anmerkungen

  1. Es darf angenommen werden, dass den Medizinern bei diesem Referenten die Zeit zu schade war, weil sie seine Position nicht teilen.

Einzelnachweise

  1. Stephan M. Probst (Hg): Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019, 266f.
  2. http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0022.html Zugriff am 08.08.2019.
  3. Ralf Stoecker: Philosophische Überlegungen zu Hirntod und Organspende. In: Stephan M. Probst: Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019.
  4. Ralf Stoecker: Der Hirntod: Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation. 2. Auflage. Freiburg 2010.
  5. Ralf Stoecker: Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland. In: D. Preuß, N. Knoepffler, K.-M. Kodalle (Hg.): Körperteile - Körper teilen. Kritisches Jahrbuch der Philosophie. Beiheft 8/2009, 41,52. Nach: https://aerzte-fuer-das-leben.de/pdftexte/stoecker-reanimation-der-hirntod-debatte.pdf Zugriff am 08.08.2019.
  6. Ralf Stoecker: Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht. In: Alberto Bondolfi, Ulrike Kostka, Kurt Seelmann (Hg.): Hirntod und Organspende. Basel 2003, 49-70.