Neurolal bedingte Wesensänderung

Aus Organspende-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Leukotomie

Freeman und Watts haben frühzeitig die Gehirne von Leukotomierten histologisch untersucht und die Eregebnisse veröffentlicht. Die größte Bedeutung maßen sie Degeneration im Nukleus medialis dorsalis Thalami zu. Die Wirkung der Leukotomie beruht demnach auf einer Unterbrechung der Bahnen, die Stammhirn und Thalamus verbinden. Dieses Befunde wurden im wesentlichen von allen Nachuntersuchern bestätigt. "Diese Autoren haben auf die grosse Variabilität in der Schnittebene hingewiesen, die selbst bei demselben Operateuer, derselben Operationsmethode und an demselben Patienten beim Vergleich der Seiten zu beobachten war."[1]

"Die Hirnwunde war meist ausgedehnter, als man erwartete und heilte unter Narbenbildung, Zystenbildung und Adhäsionen der Meningen ab."[2]

"Allgemeine Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Leukotomie nicht kausal wirkt, wie Hassler vermutet, sondern über eine Umstimmung der Persönlichkeit (...). Die grundlegende Struktur der Persönlichkeit und der Krankheit bleibt unverändert (...). Worin diese Änderung des 'seelischen Klimas' (von Baeyer, 14) im einzelnen besteht, und wie sie auf die krankhaften Symptome wirkt, darüber gehen die Ansichten auseinander."[2]

"Je schwerer und je länger bestehend eine Psychose ist, desto mehr Hirngewebe muss zerstört werden. Also muss die Schnittebene um so weiter posterior gelegt werden, je schwerer das Krankheitsbild ist (...). Es genügt eine transorbitale Leukotomie bei nicht zu lange dauernden Zwangsneurosen (...), während bei leichten Schizophenien eine Kombination mit dem 'tiefen Schnitt' wirkungsvoller ist (...), und bei langdauernden Psychosen eine totale Leukotomie notwendig wird."[3]

"Auch auf Leukotomierte hat man die üblichen Intelligenztests angewandt. Die Ergebnisse wechselten von einem Untersucher zum anderen und widersprachen sich teilweise. Man macht verschiedene Tatsachen hierfür verantwortlich. Es wäre möglich daß die postoperativ besonders stark ausgeprägte Apathie, Gleichgültigkeit und Konzentrationsschwäche die Resultate verfälschen ... Nach einer totalen Leukotomie erreichte der I.Q. erst nach Monaten oder Jahren den präoperativen Wert, während nach einer teilweisen oberen oder unteren Operation die Funktionen schon nach Wochen wiederhergestellt waren (...). Je weiter posterior der Eingriff gemacht wurde, ein desto stärkerer Ausfall machte sich bemerkbar".[4]

"Viel aufschlussreicher als die Tests selbst sind in vielen Fällen Beobachtungen, die man in der Testsituation oder im täglichen Leben des Leukotomierten machte. Das Allgemeinwissen, die Erfahrungen und Handfertigkeiten aus der Zeit vor der Krankheit bleiben im allgemeinen unangetastet (...). Der Wortschatz scheint jedoch reduziert zu sein."[5]

"Die Lernfähigkeit des Leukotomierten wird unterschiedlich beurteilt. Landis und Stauffer (...) meinen, sie sie nicht verändert. Dass ein Leukotomierter sogar studieren kann, berichteten Sifneos (...) und Greenblatt (...). Andererseits ist es fast unmöglich, einen Beruf zu erlernen (...). Freies Lernen ist besonders schwierig (...), aber unter Zwang oder dauernder Aufmunterung werden sogar gute Leistungen erreicht (...)."[6]

"Nicht allzu selten findet sich in der Literatur die Behauptung, nach der Leukotomie sei keinerlei Persönlichkeitsänderung eingetreten. Diese Befunde dürfen aber nicht verwertet werden. Oftmals läßt man sich davon täuschen, dass ein vorher isolierter Kranker plötzlich wieder seine alte Tätigkeit in der Gemeinschaft aufnehmen kann. Oder die Aussagen Angehöriger werden überbewertet, die häufig zu optimistisch sind (...). Partridge (...) fand jedenfalls unter sechzig genau untersuchten Patienten nur einen, der keine Wesensveränderung zeigte. Es handelte sich aber umm einen sowieso schwer zu beurteilenden Menschen. Tow (...) hat herausgearbeitet, dass im wesentlichen zwei Gruppen von Kranken operiert wruden, erstens an einer Psychose langjährig Erkrankte mit einer abgebauten Persönlichkeit, zweitens Neurotiker, deren Persönlichkeit noch gut erhalten war. Während in der ersten Gruppe eine mehr oder weniger grosse Besserung zu erwarten ist, treten bei der zweiten meist erhebliche Wesenveränderungen zutage. Auch Michel (...) beobachtete sichere Persönichkeitsveränderugen nur in den Fällen, wo kein schiophrener Defekt vorhanden gewesen war."[7]

"Nicht sehr oft wird über die Werke der Leukotomierten berichtet. Ihre Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit lässt sie nicht mehr schöpferisch tätig sein. Freeman und Watts (...) berichteten über einen Erfinder, der nach der Leukotomie einen Apparat konstruierte. Später fiel ihm aber nichts mehr ein, so dass Freeman meinte, er habe nur noch die Pläne ausgeführt, die er vor der Operation erdacht hatte. Briefe von Patienten begutachteten Petrie (...) und Frankl und Mayer-Gross (...). Sie fandenen einen ärmlichen, einfachen, teils schwülstigen Stil. Die Sätze waren zusammenhanglos und ohne Sorgfalt hingeschrieben. Eine erhebliche Senkung des Niveaus bemerkte auch Tow (...), der Lebensläufe verglich, die vor und nach der Operation geschrieben waren. ... Im übrigen sind alle Patienten mit dem zufrieden, was sie leisten, gleichgültig, ob es gut oder schlecht ist (...). Keiner hat jemals ein Buch geschrieben, ein Haus entworfen oder ein Kunstwerk geschaffen (...)."[8]



Neuronal bedingte Wesensänderung

W. Klages beschrieb 1961 in seinem Artikel "Zur Psychopathologie der verschiedenen Hirnabschnitte" die Folgen von der neuronalen Verletzungen:[9]

  • Schläfenlappen
    Es finden sich ausgeprägte Reizerscheinungen und reine Ausfallerscheindungen. Beim Temporallappen sind mindestens 3 afferente Systeme betroffen: das akustische, das olfaktorische und das enterozeptiv-vegale System. Häufig kommt es zu szenenhaften Abläufen, bei denen die verschiedensten Sinnesgebiete sich überschichten können. Von den Kranken werden diese "paroxysmalen halluzinatorischen Erlebnisse" als fremdartig empfunden, in der Regel kritisch bewertet und kaum wahnhaft interpretiert.
    Die verschiedensten psychischen Auffälligkeiten reichen von schiziophrenieähnlichem Verhalten und depressiven Bildern bis zu schwerer Aggressivität. "Eine eindeutige hirnlokale Spezifität konnte man allen diesen Symptomen jedoch nicht zumessen (Walther-Buel). Das einzige, was man mit einiger Sicherheit aussagen kann, ist, daß bei doppelseitigem Verlust von Tempralhirnanteilen ein hochgradiger hirnorganischer Persönlichkeitswandel eintreten kann, der dem Bild einer schweren epileptischen Demenz am nächsten kommt."
    "Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, daß der Temporallappen anatomisch und neurophysiologisch ein uneinheitliches Gebilde ist. Seine lateralen Anteile gehören dem Neocortex an, während seine meiobasalen Anteile dem Allocortex zuzuordnen sind. Ganz offensichtlich ist es so, daß die zu beobachtende Wesensänderung eher diesen tieferen und älteren Anteilen des Temporallappens zur Last zu legen ist."
  • Ammonshorn
    Die Ammonshornformation ist entwicklungsgeschichtlich ein sehr alter Teil des Gehirns. Läsionen in diesen Bereichen sind meist mit dem Leben unvereinbar und daher sehr selten. Es spricht einiges dafür, dass der Mensch das relativ und wohl auch abssolut größte Ammonshorn besitzt.
    War das Ammonshorn zerstört, war die Merkfähigkeit gestört. - Die Folgen der Läsionen war 1961 noch unerforscht.
  • Scheitellappen
    Läsionen des Scheitellappens können mit dem Gerstmann-Syndrom mit der Störung der Orientierung am eigenen Körper bis hin zu flüchtigen Trugbildernn der eigenen Gestalt (Memminger-Lerchenthal) und depersonalisationsähnlichen Phänomenen reichen. Diese Wesensänderungen springen mit an, wenn benachbarte Hirnteile neuronal geschädigt sind. "Allen von Seiten des Scheitellappens gebotenen Symptomen ist jedoch gemeinsam, daß der Kern der Persönlichkeit von den Störungen nicht erfaßt wird."
    "Reine Störungen werden selten festgestellt. ... Auch die Störung der Farbwahrnehmung, die man bei Okzipitalhirnläsionen evtl. erwarten würde, ist außerordentlich selten, da die Farbintensität als Gefühlswert weitgehend an den Thalamus gebunden ist und erst bei dessen Mitbeteiligung irriert wird."

Neuronal bedingte Wesensänderung bei Kindern

Dazu gehören noch emotionale Instabilität, Impulsivität, Verstimmbarkeit, affektive Ausbrüche und Neigungen zu aggressivem Verhalten. Die Folge sind Erziehungsschwierigkeiten, Schulversagen trotz höherer Intelligenz, Anpassungsstörungen, Ablehnung seitens der Gruppe Gleichaltriger, Störungen der Gemeinschaftsbeziehungen, Verführbarkeit und soziale Gefährdung.

Dass dieses hier nur aphoristisch skizzierte Krankheitsbild nach Hirntraumen im Kindesalter vorkommen kann, ist wenig bekannt. ... Dabei ist es sicher ein unspezifisches Syndrom; denn es ist nach Hirnschäden ganz unterschiedlicher Genese beobachtet worden (Kögler; Kramer und Pollnow), aber offenbar eine ausschließlich dem kindlichen Gehirn eigene Reaktionsweise auf die verschiedensten exogenen Schäden.[10]

Straftäter nach Hirnhautentzündung

Wie oben dargestellt, können neuronale Schäden zu Wesensänderungen führen. Da Hirnhautentzündung zu neuronale Schäden führen, ist es möglich, dass diese auch zu Wesensänderungen führen. Von einigen Straftätern ist eine vorausgegangene Hirnhautentzündung bekannt:

  • Fritz Haarmann (Friedrich „Fritz“ Heinrich Karl Haarmann; 1879-1925) war ein Serienmörder, der wegen Mordes an insgesamt 24 Jungen und jungen Männern im Alter von 10 bis 22 Jahren vom Schwurgericht Hannover am 19.12.1924 zum Tode verurteilt wurde. Sein Gehirn wurde untersucht und dabei festgestellt, dass Fritz Haarmann früher eine Hirnhautentzündung durchgemacht haben musste, was wohl zu seiner Wesensänderung geführt hat.
  • Carol Whittier „Caryl“ Chessman (1921-1960) war ein wegen Raub und Vergewaltigung zum Tode verurteilter US-Amerikaner, der vor allem wegen seines zwölfjährigen Aufenthalts in der Todeszelle 2455 in San Quentin bekannt wurde. Bereits als Jugendlicher beging Chessman seine ersten Straftaten. Auf mehrere Einbrüche folgten erste Autodiebstähle und Geldfälschung. Bei einem Überfall auf eine Metzgerei wurde Chessman verhaftet, konnte jedoch aus dem Gefängnis fliehen. Im Jahr 1937 wurde er nach einem Autodiebstahl erneut verhaftet und in die Besserungsanstalt „County Forrestry Camp“ gebracht, aus dem er ebenfalls zweimal floh. Daraufhin wurde er an die „Preston State Industrial School“ in Ione überwiesen, aus der ihn der zuständige Richter ein Jahr später wieder entließ. Weitere Straftaten brachte in bis 1939 in die "State Industrial School". Begangene Straftaten und Gefängnisaufenthalte wechselten sich ständig ab. 1948 wurde er schließlich zum Tode verurteilt und saß bis zu seiner Hinrichtung 1960 in der Todeszelle.

Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 357.
  2. a b W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 358.
  3. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 359.
  4. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 361.
  5. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 364.
  6. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 365.
  7. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 366f.
  8. W. Dehnen: Psychophatologische Erfahrungen bei ein- und beidseitigen psychochirurgischen Eingriffen. In: Fortschritte der neurol. Psych. 29 (1961), 385.
  9. W. Klages: Zur Psychopathologie der verschiedenen Hirnabschnitte. In: Med. Klinik 56.1 (1961), 160-163.
  10. W. Laux, E. Bues: Auslesefreie Längsschnittuntersuchungen nach traumatischen Hirnschädigungen im Kindesalter. In: Med. Klinik 55.2 (1960), 2309.