Michael Reuter

Aus Organspende-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? (2001)

"Der Einsatz dieser Mittel beruft sich auf die Hirntodtheorie. Die nämlich erklärt unumkehrbar bewußtlose Menschen für tot und schaft damit die entscheidende Voraussetzung für die Verpflanzung 'lebenswichtiger' Organe. Denn die Entnahme von Herz, Lunge, Leber, Nieren Bauchspeicheldrüse usw. aus dem 'hirntoten' Körper kann nur dann legitim sein, wenn dieser bereits eine Leiche ist."[1]

"Es gibt keinen 'Hirntod'; der totale Hirninfarkt wird von Hirntodtheorien im Interesse von Behandlungsabbruch und Organverpflanzung zum Tod des Menschen umgedeutet."[1]

"Hirntodtheorien nenne ich Auffassungen, die besagen, daß mit dem endgültigen Gehirnversagen, dem totalen Hirninfarkt (...), der Tod des Menschen eintritt. Der Plural 'Theorien' verweist auf die Vielfalt der Begründungen und Gestalten der Behauptung, der 'Hirntod' sei der menschliche Tod."[2]

"Der 'Hirntod' ist nicht der Tod des Menschen. 'Hirntote' leben, sie sind Patienten, keine Leichen."[2]

"Wir wissen, daß wir auch unter widrigsten Bedingungen einen Unschuldigen nicht töten dürfen."[3]

John Harris "stellt eine 'Überlebens-Lotterie' zur Diskussion, deren freiwillige Teilnehmer das Risiko, zum Opfer der Organentnahme zu werden, in Kauf nehmen, um im Zweifelsfall selbst von der Tötung eines anderen Lotterie-Teilnehmers zu provitieren. Motiviert ist die Teilnahme an der Lotterie dadurch, daß die Zahl der Organempfänger die Zahl der Opfer übersteigt. Jedem Getötetem können mehrere Organe entnommen werden, die mehreren Patienten zugute kommen."[4]

Im einzelnen sollen wir uns vorstellen: Das Leben von Y und Z sei nur durch Organverpflanzung zu retten. Y benötigt ein neues Herz, Z eine neue Lunge. Nun fordern Y und Z, den gesunden A zu töten, um ihr Leben zu retten.[4]
Wer Tötung durch Organentnahme zuläßt, wenn es um die Lebensrettung bzw. Leidensverminderung Dritter geht, kann Organentnahme nicht von Euthanasie abgrenzen.[5]
Wer fordert, die Organentnahme beim lebendigen 'Hirntoten' zuzulassen, tritt für die freiwillige Euthanasie ein.[6]
Der Arzt muß zwar den Behandlungsabbruch, der i.d.R. nach Eintritt des totalen Hirninfarkts geboten ist, verantworten; das heißt aber nicht, daß er zugleich berechtgt ist, den Menschen zu töten, zu dessen Lebensqualität er nichts mehr beitragen kann. Das zeigt sich in unserem moralischen Urteil: Den, der einen u.U. gebotenen Behandlungsabbruch unterläßt, verurteilen wir nicht in gleichem Maße wie den, der gezielt ein Leben (ob verlängert oder nicht) beendet.[7]
Die Erlaubnis, von lebenden 'Hirntoten' Organe mit Zustimmung der Betroffenen zu entnehmen, würde außerdem fremdnütziger Euthanasie den Weg bereiten."[7]

"Hier gilt es, das oft sogenannte 'Scheinleben' des 'Hirntoten' näher zu schildern."[8]

Innerliche Enthauptung: Zur Enthauptung gehört die Zerstörung der Integrität des menschlichen Körpers, die Leben möglich macht. Und vorschnellen Schlüssen zum Trotz heißt 'enthaupten': 'den Kopf (nicht das Gehirn) vom Rumpf trennen'.[9]
Die pflegerische Zuwendung selbst sträubt sich gegen die These, vom Tod des Hirntoten: Schwestern berichten von Gesprächen, die sie mit Hirntoten bei deren Pflege führen. Und Schwestern und Pfleger im Operationssaal berichten von dem Erlebnis, daß der Hirntote bei der Organentnahme stirbt - nicht ohne zu betonen, sie wüßten doch eigentlich, daß einer Leiche Organe entnommen würden.[10]
Ärzte haben keine besondere Komptenz, die Demarkationslinie von Todesbegriff und Todesfeststellung zu ziehen.[11]

Charles Culver und Bernard Gert entwickelten 1982 das Drei-Ebenen-Modell, um den Tod zu definieren:[12]

  1. Definitionsmerkmale
    Woran ist der Tod des Menschen zu erkennen?
  2. Kritierien
    An welchen Kriterien kann man den Tod des Menschen erkennen?
  3. Tests
    Mit welchen Testverfahren können die Kriterien überprüft werden?

"Das Drei-Ebenen-Modell ist eine, wohl unvermeidliche, Idealisierung der tatsächlichen Scheidelinien philosophischer, naturwissenschaftlicher und ärztlicher Kompetenz."[13]

Der Hirntod war in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts noch unbekannt. Herzmassage und vor allem künstliche Beatmung gehörten nicht zum üblichen Repertoire ärztlicher Hilfe am Lebensende. Der Tod wurde ausschließlich - wie heute noch in den meisten Fällen - mit dem endgültigen Ausfall von Atmung und Kreislauf festgestellt.[14]
Halten wir fest: Die Erstbeschreibung des später sogenannten 'Hirntodes' weiß nichts vom Tod des irreversiblen Komatösen. Der Hirntote ist Patient. Das Coma dépassé ist nur graduell von anderen Komata unterschieden.[15]
Die Intensivstation ist heute eine erstaunlich leistungsfähige 'Hirnstamm-Prothese'.[15]

1962 veröffentlichte Pierre Mollaret den Artikel "Über die äußersten Möglichkeiten der Wiederbelebung" mit dem Untertitel "Die Grenzen zwischen Leben und Tod". Das Coma dépassé sei "ein maskierter Tod". Der Hirntote "ist nicht mehr ein Lebender, der sich äußert, alles ist reduziert auf gelegentliches eintöniges Knirschen des bemitleidenswertesten der Roboter". (S. 1545) [16]

Entsprechend der Natur des Menschen und jedes Säugetieres als Bewußsteins- und Körperwesen unterscheiden sich Leben und Tod durch Funktion und Funktionsverlust zweier System: des Bewußtseins und des physischen Organismus. Der irreversible Funktionsverlust nur eines dieser Systeme reicht nicht aus, einen Menschen tot zu nennen. Ein Mensch im irreversiblen Koma ist nicht tot, weil und solange er als biologischer Organismus lebt. Auch der irreversible Verlust der Integration der Körperfunktionen zur Einheit des Organismus, die durch die Gehirntätigkeit zustande kommt, würde nicht ausreichen, einen Menschen tot zu nennen, wäre dennoch ein weiteres Bewußtseinsleben möglich.[17]

Der Neurologe Johann Spittler argumentiert für den Hirntod einen Dreischritt:[18]

  1. Ohne lebendes Gehirn gibt es in dieser Welt keine Wahrnehmung, Erleben, Wünschen, Hoffen, Wollen und Handeln.
  2. Nach unwiederbringlichem Ausfall jeglichen Wahrnehmens, Erinnerns und Erlebens ist der Mensch als individuelle Person nicht mehr.
  3. Mit dem Hirntod ist der Tod des Menschen festgestellt.

Johann Spittler: "Denken und Handeln des Menschen als Person auch in ihrer einfachsten Form sind im Zustand des Großhirntodes nicht mehr möglich."[19]

ev. Theologe Ulrich Körtner: "Der Hirntod wird nämlich nicht deshalb mit dem Tod der Person gleichgesetzt, weil allein im Gehirn der Sitz der Persönlichkeit oder des Bewußtseins zu verorgen wäre, sondern deshalb, weil das Gehirn nach heutigem Kenntnisstand jene organische Instanz ist, welche die Integration des gesamten Organismus zu einer leiblich-seelischen Ganzheit gewährleistet."[20]

Das Geflecht 'vitaler Kategorien' (Michael Thompson), die Rede vom Lebendigen, wurzelt in spezifischen Einstellung zu Lebewesen überhaupt und zum lebenden Menschen im besonderen. Die Formulierung von Kriterien des Lebens- bzw. Todesbegriffs kultiviert die naturwüchsige Vertrautheit mit dem Leben des Menschen, ohne daß diese Rationalisierung den Bezug auf primitive 'Intuitionen' überholte. Die Todeszeitbestimmung in Abhängigkeit von Kreislauf und Atmung begreife ich somit als Ausbau unseres primitiven Todesbenehmens.[21]



[22]

Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. a b Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 9.
  2. a b Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 13.
  3. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 25.
  4. a b Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 26.
  5. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 30.
  6. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 31.
  7. a b Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 32.
  8. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 51.
  9. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 55.
  10. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 59.
  11. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 60.
  12. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 63f.
  13. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 64.
  14. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 97.
  15. a b Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 100.
  16. Pierre Mollaret: Über die äußersten Möglichkeiten der Wiederbelebung. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 104, 1962. Zitiert nach: Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 101.
  17. WB-BÄK S. 2172. Zitiert nach: Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 139.
  18. Johann Spittler (Drucksache 589/13, 42. Zitiert nach: Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 152.
  19. Johann Spittler: Hirntod, 321. Zitiert nach: Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 153.
  20. Ulrich Körtner: Ganztod (1995), 14. Zitiert nach: Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, .
  21. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, 183.
  22. Michael Reuter: Abschied vom Sterben und Tod? Ansprüche und Grenzen der Hirntodtheorie. In: Anselm Winfried Müller (Hg.): Ethik aktuell. Bd. 5. Stuttgart 2001, .