Claudia Wiesemann

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Zur Person

Claudia Wiesemann (*1958) ist eine deutsche Ärztin, Medizinethikerin, Medizinhistorikerin und Hochschullehrerin. Sie ist ordentliche Professorin (C4) für Medizinethik und Medizingeschichte an der Universität Göttingen und Direktorin der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen.


Beruflicher Werdegang[1]

  • Seit 1998 Direktorin (C4) der Abt. Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen
  • 1995 Habilitation für das Fach „Geschichte und Ethik der Medizin“, Medizinische Fakultät der Univ. Erlangen-Nürnberg
  • 1990 bis 1998 Wissenschaftliche Assistentin, Institut für Geschichte der Medizin der Univ. Erlangen-Nürnberg
  • 1990 Promotion in Medizingeschichte an der Medizinischen Fakultät der Univ. Münster
  • 1988 bis 1990 Studium der Philosophie, Neueren Geschichte und Geschichte der Medizin an den Universitäten Münster und Erlangen-Nürnberg
  • 1985 bis 1988 Assistenzärztin der Inneren Medizin (Kardiologie, Angiologie, Intensivmedizin)
  • 1984 Approbation als Ärztin
  • 1977 bis 1984 Studium der Humanmedizin an der Universität Münster

Mitgliedschaften

  • Seit 1998 Mitglied der Ethikkommission der Universitätsmedizin Göttingen
  • 2002 bis 2011 Mitglied der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung am Robert-Koch-Institut
  • 2008 bis 2010 Mitglied der Kommission für Ethik in der Forschung an Kindern und Jugendlichen der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
  • 2002 bis 2012 Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin e.V.
  • 2010 bis 2016 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer
  • 2012 Berufung in den Deutschen Ethikrat durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Norbert Lammert
  • 2016 erneute Berufung in den Deutschen Ethikrat durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Norbert Lammert

Ehrungen

  • 1978 bis 1984 Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes

Schwerpunkte des Engagements im Ethikrat[2]

  • Autonomie und Vertrauen in der modernen Medizin
  • Bioethische und soziale Implikationen moderner Fortpflanzungs­technologien
  • Ethik der Transplantationsmedizin
  • Biobanken
  • Ethik der Forschung am Menschen
  • Das Kind in der Medizin

Weitere Informationen bei der Bundesärztekammer

Schriften

Annäherungen an den Tod (04.06.2015)

Am 04.06.2015 erschien von Claudia Wiesemann der Artikel "Annäherungen an den Tod".[3] Darin heißt es:

Der sensible Bereich ist nicht einmal umfassend erforscht.

In der Medizin gibt es kaum etwas, was noch besser erforscht ist, das der Hirntod. Das zeigen die zahlreichen Studien, die bis in die 1950-er Jahren zurückreichen.

Denn im Koma lassen sich die Funktionen des Gehirns nur indirekt erfassen.

Koma und Hirntod lassen sich deutlich voneinander unterscheiden.

Die Hirntod-Diagnose am Ende einer Vielzahl funktioneller Untersuchungen einzelner Gehirnabschnitte beruht auf Schlüssen aus verschiedenen, miteinander kombinierten Befunden.

... aber auch - seit den 1960-er Jahren! - auch auf histologische Befunde der Pathologie.

Keine Untersuchung kann allein direkt und unmittelbar den Tod auch nur einer Gruppe von Zellen beweisen, geschweige denn den Tod sämtlicher Zellen des Gehirns.
Nur aus der Kombination dieser sehr unterschiedlichen Erkenntnisse kann man im Einzelfall mit einer ausreichenden Sicherheit ableiten, dass alle Hirnzellen abgestorben sind.
Wissenschaftler müssten systematisch untersuchen, ob die These, der Untergang sämtlicher Gehirnzellen lasse sich sicher diagnostizieren, nicht widerlegt werden kann.
Um einen Therapieabbruch in Betracht zu ziehen, bedarf es keines sicheren Nachweises des Untergangs jeder einzelnen Hirnzelle.

Hirntod ist in § 3 TPG als Funktionsausfall definiert, nicht als Tod aller Gehirnzellen.

Ins Gehirn lässt sich eben nicht so einfach hineingucken.

Es sind aber Rückschlüsse möglich, so z.B. bei der Nichtdurchblutung des Gehirns.

Ein Hauptproblem besteht darin, dass fast alle Techniken nur den momentanen Ausfall nachweisen, nicht aber den dauerhaften Untergang.

Siehe: Irreversibilität

Das Fehlen einer Funktion im Gehirn heißt eben nicht, dass diese Funktion für immer erloschen ist.

Siehe: Nullsummenzustand

Studien wie die von Welschehold et al., die 2012 im Deutschen Ärzteblatt erschienen, problematisieren wichtige Aspekte der Hirntod-Diagnostik, ihre Konsequenzen werden aber nicht offen diskutiert. Welschehold und seine Arbeitsgruppe verglichen die Kontrastdarstellung der Hirngefäße (CT-Angiografie) mit anderen Techniken wie dem EEG oder der Ultraschall-Doppler-Untersuchung und stellten fest, dass sich in 14 Prozent der Fälle voneinander abweichende Befunde ergaben.

Was ändert dies an dem Zustand des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls?

Wenn die CT-Angiografie nicht durchgeführt wird, dann könnte in bis zu 14 Prozent der Fälle eine noch vorhandene Restdurchblutung des Gehirns übersehen werden. Doch bis heute müssen Untersucher nicht begründen, warum sie die Diagnostik für unnötig halten.

Wie groß ist die Restdurchblutung? Seit den 1960-er Jahren weiß man, dass bei einer Restdurchblutung von weniger als 20% die Gehirnzellen absterben.

Wie sicher können die operierenden Ärzte sein, dass dieser Patient keinerlei Empfindungen mehr verspürt?

Siehe: Schmerz

Wie sichert man das ärztliche Gebot des Primum nil nocere, der Vermeidung von Schaden?

Siehe: Sicherheit

Pro + Contra: Widerspruchsregelung bei der Organspende (12.12.2018)

Claudia Wiesemann hielt am 12.12.2018 auf dem Forum Bioethik des DER einen Vortrag.[4] Dabei sagte sie:

Und die Zahl der Besitzer eines Organspendeausweises steigt in den letzten zehn Jahren konsequent, auf einen Wert von 36 Prozent.

In den Intensivstationen ist diese Quote noch nicht angekommen. Im Jahr 2017 hatten nach festgestelltem Hirntod 16% eine schriftliche Entscheidung zur Frage der Organspende.

Es ist bekannt, dass nicht wenige Anästhesisten bei der Entnahmeoperation ihrem Organspender Schmerzmittel verabreichen, obwohl das nach der Hirntodtheorie nicht nur nicht notwendig, sondern sogar sinnlos ist.

Siehe: Schmerzen und Schmerzen#Schweiz

Interviews

Am 04.04.2019 ist im "Stern" auf Seite 76 der Artikel überschrieben mit den Worten "Sie hat keinen Organspendeausweis. Claudia Wiesemann, Medizinethikerin und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats".[5] Claudia Wiesemann begründet dies mit den Worten: "Mir ist es lieber, dass meine Familie entscheidet, wenn ich in dieser Lage kommen sollte. Ich möchte keinen Blankovollmacht erteilen, weil die Situation auf der Intensivstation so unterschiedlich ausfallen können." und weiter: "Ich kann mir zwar prinzipiell vorstellen zu spenden. Aber nur, wenn absolut sichergestellt ist, dass es medizinisch richti ist, die Maschinnen abzustellen. Und mein Mann muss es in dieser Situation ertragen können. Es geht ja auch darum, wie er sich von mir verabschieden will." und weiter: "Ich will nicht heute etwas verfügen, dessen Konsequenzen ich nicht überblicken kann. Damit würde ich meinen Angehörigen zu viel aufbürden." und weiter: "Es gibt in der Intensivmedizin viele Entscheidungen, die sich an der Grenzlinie zwischen Leben und Tod bewegen. Ich möchte meinen Angehörigen einen Spielraum lassen - in meinem Interesse."[Anm. 1] (78)

Dominik Stawski schreibt hierzu, dass sie "gute Gründe" habe. (76) - Dass es Gründe sind, muss anerkannt werden. Dass es "gute Gründe" sind, muss hinterfragt werden.

Angemessener wäre es wohl zu sagen, der Mensch befindet sich an der Schwelle zum Tod, in einem Übergangsbereich. (78)

Siehe: Todesverständnis

Für die Pflegekräfte ist diese Frage sehr belastend. Eben haben sie noch den Menschen gepflegt, alles gegeben, um ihm zu helfen. Und plötzlich sollen sie, weil man festgestellt hat, dass das Gehirn nicht mehr funktioniert, diesen Menschen auf eine Organentnahme vorbereiten. Es hat hat sich aber kaum etwas an ihm verändert. In der Diskussion werden die Pflegekräfte bisher völlig vernachlässigt und mit diesem Problem alleingelassen. (78)

Siehe: Ausbildung der Ärzte und Pflege

Ja, aber der Hirntod ist keine simple Diagnose. Bei ihr können Unsicherheiten auftreten. Ich vertraue darauf, dass sie in den allermeisten Fällen korrekt abläuft. Aber in manchen Kliniken ist die Expertise nicht vorhanden. (78f)

Siehe: Sicherheit, HTD

Das Problem ist nun mal, dass die eindeutige Grenze des Todes, die vielleicht mal existert hat, durch die Intensivmedizin unscharf wurde. (79)

Siehe: Todesverständnis

Ich glaube, wir kommen aus dem Dilemma der Organspende nur heraus, wenn dieses Gespräch zwischen Arzt und Familie als eine ganz wesentlich ärztliche Aufgabe begriffen wird. Nicht als Zumutung. (79)

Es ist für die Hirnterbliebenen schon schwer genug zu hören, dass ihr Angehöriger, der meist vor 2-5 Tagen noch völlig gesund im Leben stand, nun hirntot ist. Hinzu kommt, dass der Hirntod ein unsichtbarer Tod ist. Diese Situation ist daher für Hinterbliebenen eine Zumutung. - Im nächsten Satz sagt Claudia Wiesemann selbst, dass es ein "schwieriges Gespräch" sei.

Ich habe das Gefühl, dass sich manche mit der Widerspruchslösung herausmogen wollen aus diesem schwierigen Gespräch. (79)

Siehe: Widerspruchsregelung

Ich glaube, selbst bei größten Anstrengungen wird es nur möglich sein, die Zahl der Spender um etwa 50 Prozent zu erhöhen. (79)

Im Jahr 2009 hatte Deutschland 15,9 Organspender pro Mio. Einwohner, davon 14,9 aus Todspende. 2018 waren es 9,7 Organspender pro Mio. Einwohner. Mit 50% mehr wären wir auf dem Stand von 2009.
Die Mitgliedstaaten des ET-Verbunds hatten im Jahr 2018 pro Mio. Einwohner an Organspendern: Luxemburg 15,9, Ungarn 16,2, Niederlande 16,4, Slowenien 20,9, Österreich 24,7, Kroatien 33,0 und Belgien 33,6. Dies ergibt ohne Deutschland einen Durchschnitt von 23,0. Das ist mehr als doppelt so viel, wie Deutschland momentan hat.

Viele leiden sehr, manche sind vom Tode bedroht. (79)

Siehe: Warteliste

Aber ich bin sicher, dass es den Mitarbeitern auch an Überzeugung fehlt. Sie brauchen ein moralisch bedeutsames Ziel, für das sie sich einsetzen sollen. Und die Transplantationsmedizin trägt mit ihren Verfehlungen dafür Verantwortung, dass dieses Ziel von der Basis in Zweifel gezogen wird. (80)

Öffentlich zu sagen, ich stimme im Falle meines Hirntodes trotzdem einer Organentnahme zu und will, dass es auch durchgeführt wird, könnte ein mächtiger Motivationsschub sein. Statt dessen sagt Claudia Wiesemann öffentlich, dass sie keinen OSA hat.

Aber mich ärgert, dass der Bevölkerung vorgeworfen wird, sie spende nicht genug, wenn eigentlich die Transplantationsmedizin vor der eigenen Haustür kehren müsste, um Vertrauen wiederzugewinnen. (80)

Siehe: Entscheidungen

Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen einem Menschen, der seit Tagen tot und womöglich Opfer eines Verbrechens ist, und einem Menschen auf der Intensivstation, der rosig aussieht, der noch manche neuronale Reflexe zeigt und dann einem Eingriff unterzogen wird, der seinen Kreislauf beendet. Das scheint mir doch kaum vergleichbar. (80)

Es gibt auch einen Unterschied zwischen einem Toten, der schon seit Stunden in der Kühlkammer liegt und einem Toten auf der Intensivstation, bei dem das Herz soeben aufgehört hat zu schlagen, weil die Batterie seines Herzschrittmachers nun leer ist und der noch am Beatmungsgerät hängt. Wie beim Hirnntoten hebt und senkt sich noch sein Brustkorb, wie der Hirntote ist er noch warm. Und dennoch: Alle vier hier beschriebene sind Tote.

Bei der Organspende muss ich aber darüber nachdenken, wie unter komplexen intensivmedizinischen Bedingungen mit meinem Körper umgegangen werden soll. (80)
Herz 94a.jpg
Ich finde, man sollte in diesem Bereich nur über Dinge entscheiden, über die man ausreichend informiert ist. (80)

Jeder hat ein Recht auf Unwissenheit. Es gibt keine Verpflichtung zum aufgeklärt-werden. Doch nach der Feststellung des Hirntods gibt es kein "Ich kann mich nicht entscheiden." Da gibt es nur ein Ja oder Nein zur Organspende, unabhängig wie aufgeklärt jemand ist.

In Deutschland gibt es zu viele kleine Transplantationszentren, die nur ein paar Organe im Jahr verpflanzen. Vielleicht weil sich das dann jemand auf seine Visitenkarte scheiben kann. Wir brauchen weniger und dafür größere und besser funktionierende Zentren, die Vertrauen aufbauen können. (80)

Siehe: Entscheidungen, Transparenz

Anhang

Anmerkungen

  1. Dadurch, dass Claudia Wiesemann keinen OSA ausfüllt, hat sie keine Interessen geäußert. Woran soll sich dann im Falle ihres Hirntodes die Familie orentieren? Ein ausgefüllter OSA ist hierbei eine klare Willensäußerung und entlastet die Hinterbliebenen in dieser schwierigen Situation emontional sehr. Siehe: Der Ausweis

Einzelnachweise